«Eigentlich könnte man über jeden Tag ein ganzes Buch schreiben»tun & lassen

Max Marko Feingold, geboren 1913, erzählt sein Leben «im Telegrammstil»

Auf die Frage, ob Spanien für ihn als jungen Sozialisten eine Option gewesen sei, antwortet Feingold charakteristisch: «Ich wäre damals zu jung gewesen, 18, 19 Jahre. Außerdem, wissen Sie, so schmutzige Sachen wie Krieg führen waren nichts für mich. Ich war ein Stadtmensch, gern elegant angezogen, alles sehr gepflegt; wenn ich auch nur wenig hatte, aber das war picobello.» Max Marko Feingold, hundert und ein halbes Jahr, ist seit 1979 in zweiter Amtszeit Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg. Im Interview im aktuellen AUGUSTIN erfahren wir, was Renner damit zu tun hat, dass Feingold nicht in Wien lebt, wie Warschauer Kaffeehausgrafiker zu seiner Legalisierung beigetragen haben und wie man fünftausend Menschen über die Krimmler Tauern bringt, ohne einen Prozess als Schlepper am Hals zu haben.Sie werden Marko genannt, sagen aber von sich selbst, Sie heißen Max.

Es dürfte sechzig Jahre her sein, da habe ich in Österreich um einen neuen Pass eingereicht, und man hat gesagt: «Kommen Sie morgen, dann ist er fertig.» Am Nachmittag ruft er mich an: «Na, das geht nicht, wir haben unseren gerichtlich beeidigten Dolmetscher gerufen, und der behauptet, der Max in ihrem Geburtsschein kann nicht übersetzt werden, es muss Marko heißen.» Ich habe gesagt: «Da haben wir aber Schwierigkeiten, ich habe eine eingetragene Firma, die heißt Wiener Mode/Max Feingold.» «Na ja, Herr Feingold, das können wir ja ändern.» «Was kostet das?» «Sechstausend Schilling.» «Das ist es mir nicht wert.» So ist es dabei geblieben, Max Marko. Ich hab‘ mir sechstausend Schilling gespart.

Ihre Interviews lesen sich immer so, als wäre Ihnen alles sehr leicht von der Hand gegangen. War es einfach, in Salzburg Fuß zu fassen, obwohl Nazis und Antisemitismus ja nach 1945 nicht vom Erdboden verschluckt waren?

Sie fragen mich nicht, wie ich nach Salzburg kam? Sehen Sie, das ist das Wichtige. Kurz nachdem Wien befreit worden ist, stehen wir an der amerikanisch-russischen Zonengrenze; die Russen sagen: «Nein, wir dürfen euch nicht nach Wien lassen, wir haben das Verbot von Innenminister Helmer, Kanzler Figl und dem nachfolgenden Bundespräsidenten Renner.» Speziell Renner wollte auf keinen Fall Juden zurückhaben. Aber auch keine politischen Freunde, weil die hätten gewusst, was er für ein Verkehrter war. Er war es nämlich, der als Politiker hätte wissen müssen, was Deutschland zwischen 1933 und 38 schon durchgeführt hat; wie konnte er für den Anschluss sein? Und so etwas ist Bundespräsident geworden.

Die Amerikaner haben also den Auftrag bekommen, uns nach Buchenwald zurückzubringen. Ein paar sind nicht mehr eingestiegen, wir waren 128, darunter dreißig Juden. In Salzburg, knapp vor der deutschen Grenze: «Ich will aussteigen! Wer kommt mit?» Haben sich noch fünf gemeldet. So bin ich in Salzburg gelandet. Das kann ich dem Renner nicht verzeihen. Ich hoffe, er muss sich auf einem Spieß im Grab drehen. Der Renner-Ring ist der nächste Ring, der gehen wird.

Wie sollte der heißen?

Wenn es nach mir ginge, würd er Stefan-Zweig-Ring heißen, aber das kann man vergessen.

Sie waren in den späten 1940er Jahren selbst bei der SPÖ.

Ich war schon als Kind bei den Kinderfreunden. Nach dem Krieg, als die SPÖ dachte, sie hat keine Akademiker, wurde der Sozialistische Akademikerbund gegründet. Die Nazis wurden eingeladen, Mitglieder zu werden. Ich hatte hiermit ein bisschen Schwierigkeiten und ging mich beschweren beim Sekretär der SPÖ; nur dass er nicht gesagt hat: «Saujud, verschwind!» Sonst hat er alles gesagt. Kurze Zeit später kommt ein Bekannter von mir drauf, dass ich gar kein Mitglied mehr bin: «Man hat deine Kartei gezogen.»

Die Prominenten der sozialistischen Partei haben, so oft sie mir begegnet sind, gesagt: «Herr Feingold, das müssen wir in Ordnung bringen!» Es hat sechzig Jahre gedauert, bis mich der Bürgermeister von Salzburg einmal angerufen hat: «Komm morgen Vormittag bei mir vorbei.» Sehe ich einen schön gedeckten Tisch mit Brötchen, Sekt – ja was ist denn da? «Unterschreib! Dass du Ehrenmitglied wirst.» Hab i na sogn kennan? Jetzt wissen Sie, wie ich wieder Mitglied der Sozialistischen Partei geworden bin.

Wie geht’s Ihnen, wenn Sie die SPÖ heute sehen?

Nicht sehr gut.

Sie sind in den 1920er Jahren in Wien jung gewesen und viel ausgegangen. Für meine Generation ist die Vorstellung vom Wien der 20er und 30er Jahre recht romantisch.

Das ist es auch gewesen. Ich habe mich sehr dezent gekleidet und bin gern in das berühmte Grabencafé gegangen, wo es schön zum Tanzen war am Abend. Wir waren drei, vier junge Leute, beliebt im Kaffeehaus, weil viele Damen sind gekommen – man musste die eine oder andere zum Tanzen holen, dafür hat man den Musikschutz nicht bezahlen müssen. Gleich beim Eingang unter einer Säule mit einer Uhr war unser Stammtisch; alle mussten da vorbeigehen. Man konnte schon die Damen sehen, hat schon einen Augenkontakt gehabt, und wenn eine Musik angeschlagen hat, ist die schon aufgestanden und dir entgegengekommen, sodass kein anderer sie engagieren konnte. Und spätabends kamen die Damen vom Strich. Die haben alle auch ein Herz im Leib. Und mit denen war’s sehr schön, Tango zu tanzen. Manchmal haben sie dich umsonst mitgenommen – kennst dich aus?

Ich kenn‘ mich aus.

Ich bin ehrlich. Kann man ehrlicher sein? Jedenfalls konnte man damals für wenig Geld – und Geld war sehr rar – schön leben. 1932 bin ich arbeitslos geworden, mein Bruder auch. Mir soll keiner etwas erzählen von Hunger. So bin ich mit meinem Bruder nach Italien gegangen. Wir wurden Vertreter. Ein Vertreter muss etwas verkaufen, damit er die Provision kriegt. Und er verkauft zumeist das, was die Leute eh nicht brauchen. Oder wenn sie es brauchen, dann verkauft er zu viel. Ich hab ja nichts davon, wenn ich jemandem eine Vorführung mache, die eine halbe Stunde dauert, und dann kauft er fünf Liter Bohnerwachs. 250 Liter hat er kaufen müssen! Ich glaub, der hat heute noch davon. Das sind die sechs fettesten Jahre meines Lebens gewesen, 1932 bis 1938.

Sie sind trotzdem nach Österreich zurückgegangen.

Italien hatte ein Malheur: In der kalten Jahreszeit läuft die Zentralheizung, aber die Zimmer sind sehr hoch, warm ist also nur der Radiator. Man kann ja nicht die ganze Nacht auf dem Radiator sitzen, also sucht man sich gerade den Februar aus, um nach Wien zu fahren und die Pässe zu verlängern. So kommt man nach Wien, es ist Fasching, man hat ja so viel G’wand zusammengekauft, und all das muss man zeigen, damit die Freunde sehen, wie gut es einem geht. Man hätte um fünf in der Früh aufs Passamt gehen müssen, dann wäre man vielleicht fertig geworden. Aber man kommt erst um zwei oder drei nach Hause, man verschiebt es, morgen, übermorgen, 12. März: Einmarsch.

Nach Italien konnten Sie nicht mehr zurück, die Grenzen waren ab März 1938 zu.

So sitzen wir in Wien und eines Tages werden wir verhaftet. Mein Vater scheint auf der Liste gewesen zu sein von den Leuten, die man zuerst verhaften sollte, und man sucht ihn, er ist nicht da, so nahm man uns beide mit. Fünf Tage – ich habe da ein schönes Wort gefunden: Man hat uns nicht geschlagen, man wollte uns zerlegen. In einzelne Teile. So eine Misshandlung, das kann man sich nicht vorstellen. Am fünften Tag: «Hier ist ein Briefpapier, schreibt, er soll kommen, dann seid ihr frei.» Hättet Ihr so einen Brief schreiben können?

Wir haben ihm geschrieben: Lass dich ja nicht blicken; haben angedeutet, was uns passiert ist, und er ist natürlich nicht gekommen. Wochen später wurden wir entlassen, unter einer Bedingung: Österreich sofort zu verlassen. Die einzige Möglichkeit: in die Tschechoslowakei. Als unsere Pässe ablaufen, werden wir dort verhaftet; die Deutschen nehmen uns nicht zurück, so kommen wir gleich auf eine Schubstation, dort sind natürlich lauter Spezialisten aus Polen, Taschendiebe, Einbrecher, alles Mögliche, und die sind ganz stolz darauf, wie wunderbar sie in der Tschechoslowakei behandelt werden: Wenn sie erwischt werden, kriegen sie vierzehn Tage und werden nach Polen abgeschoben. Am gleichen Tag kommen sie zurück, weil sie haben ja neue Papiere … «Wo kriegt man neue Papiere her?» «Du musst nur schauen, dass du nach Warschau kommst, in jedem Café sitzt ein Grafiker.» So haben wir uns neue Pässe besorgt, und das ging eine Weile gut.

Über die Zeit in vier Konzentrationslagern der Nazis, die Max Marko Feingold anders als sein Bruder überleben konnte – «mit lauter Zufällen», wie er betont – lässt sich in seiner Autobiographie «Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh» nachlesen. «Im Telegrammstil», sagt Feingold, «denn eigentlich könnte man über jeden Tag im KZ ein ganzes Buch schreiben.»

Springen wir wieder in die Jahre nach 1945: Sie haben in Salzburg zuerst ein Modegeschäft gehabt und sind dann doch, trotz wenig Religiosität, IKG-Präsident geworden. Wieso?

Weil niemand anderer da war. Von 250.000 jüdischen Flüchtlingen nach 1945 sind 500 hier geblieben. 150.000 hatten Verwandte in Kanada, in Amerika, in Australien und so weiter. Und die anderen 100.000 wollten nach Palästina, die habe ich als Italiener «repatriiert» nach Italien.

Wie haben Sie das angestellt?

Die Franzosen, die an der italienischen Grenze waren, haben die längste Zeit nur mit einem Aug‘ geschaut, aber im Sommer ’47 war es aus. Da hatten wir noch 5000 Leute da, die nach dem Süden wollten. Eines Tages nehme ich die Landkarte her und entdecke, zehn Kilometer Luftlinie lang geht die amerikanische Zone direkt nach Italien: Das sind die Krimmler Tauern. Ich fahr mit ein paar Leuten in die Gegend, bei näherem Schauen sehe ich, da gibt es oben ein Krimmler-Tauern-Haus. Auf 1290 Meter. Die Wirtin war gleich einverstanden, also konnten wir die fünftausend über die Krimmler Tauern bringen. Und aus Wien kam das Kommando an die Gendarmerie: «Fenster zu, Vorhänge zu, das geht euch nix an.» Die waren froh, dass sie die Juden los sind. Jährlich findet jetzt seit sieben Jahren zur Erinnerung das Alpine Peace Crossing statt.

Wie haben Sie die Entschädigungspolitik erlebt?

Können Sie sich vorstellen, dass die Heimkehrer, die gegen Österreich Krieg geführt haben, um zwanzig Prozent mehr gekriegt haben als die, die im KZ waren? Und wissen Sie, dass ein Staatsbeamter, der im KZ war, doppelte Haftzeit angerechnet bekommen hat? Was ich sage, stimmt. Nicht dass Sie glauben: «Wenn ich das schreibe, was der sagt, stimmt das nicht.» Das stimmt.

In Wien wurde 1957 die Sammelstelle zur Entschädigung durch erbenloses Vermögen für alle, die verfolgt waren, eingerichtet. Ich kann nur Fälle von Salzburg berichten, die alle lächerlich sind. Der jüdische Religionslehrer wurde gefragt: Wie können Sie bestätigen, dass Sie Jude sind? Ein Freund wurde angefragt, warum er sich als «Zigeuner» gemeldet hatte – ins KZ kam er als «jüdischer Mischling», und das hat er auch angegeben. Ich wiederum bekam von der Sammelstelle eine Ablehnung, da ich nie in Österreich polizeilich gemeldet gewesen sei – von Deutschland bekam ich am selben Tag einen Auszug aus dem Melderegister mit all meinen Adressen in Wien, an denen ich mit meinen Eltern gemeldet war: Das war ein Büro, das vor allem daran interessiert war, Korrespondenz zu führen, um diese Dienststelle möglichst lange zu erhalten; weil die Gehälter waren sehr schön, und dass das auf Kosten des Herzugebenden ist, hat ja die nicht interessiert.

Und was ist bei der Sammelstelle rausgekommen?

Na wenig. Schlussendlich bekam ich eine Entschädigung, jedoch von der Sammelstelle B – für Nicht-Juden. Von der Sammelstelle A, die für jüdische Verfolgte gegolten hatte, wäre die Entschädigung etwas höher gewesen. Wissen Sie, es ist diese Kuriosität, was alles geschehen konnte, ohne dass irgendjemand Einspruch genommen hätte. Und die, die Einspruch nehmen hätten können, waren parteipolitisch gebunden zum Pappenhalten. Vorwiegend bei den Roten. So haben wir einen berühmten Kreisky. Alle Leute in Österreich loben ihn, ich kann Ihnen sagen, warum: Er war ein Jude, und weil er auf Juden geschimpft hat, hat man ihn so gern gehabt.

Wie hat sich Salzburg bis heute verändert?

Salzburg ist so geblieben, wie es war. Es ist genauso nazistisch wie es war, antisemitisch dazu, von den fünfhundert österreichischen Juden, die 1945 waren, sind nach einer Statistik noch siebzig da. Von denen kenn ich zwanzig. Das ist alles. Und in meinem niedrigen Alter können wir bald sagen: Da war ich der Letzte. Sie werden sich fragen, wieso bleibt er dann da? Gegen alle Widerstände. Leicht ist das nicht, das kann ich Ihnen sagen. Aber ich habe mich eben dafür entschieden.

Fotos: Carolina Frank

Biographie:

Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Eine Überlebensgeschichte

Hg. von Birgit Kirchmayr, Otto Müller Verlag, 2. Auflage 2012, 327 Seiten, 23 Euro

Alpine Peace Crossing: jährlich an einem Samstag, Ende Juni/Anfang Juli

www.alpinepeacecrossing.org