Eine Reise nach Diyarbakirtun & lassen

Kurdinnen und Kurden tragen Gewehre und kommen von den Bergen. Diese romantische Vorstellung verzerrt die banale Realität: Die meisten leben unter urbanen Bedingungen, wie sie in allen Schwellenländern zur normalen Realität geworden sind. 1930 zählte man in Diyarbakir 30.000 Einwohner_innen. Die Bevölkerungszahl verzehnfachte sich bis 1985. Und inzwischen leben 1,6 Millionen Menschen in dieser Stadt im Osten der Türkei. Wer keinen Staat hat, hat auch keine offizielle Hauptstadt – doch Diyarbakir gilt als die heimliche Hauptstadt der Kurd_innen. Schneller als sie wächst keine Stadt in der Türkei. In kurzer Zeit wird sie Wien überholt haben. Verwaltet wird sie von der HDP (Partei der Freiheit der Völker), die als politischer Arm der Guerillabewegung PKK gilt und seit den letzten Kommunlawahlen die meisten kurdischen Städte regiert. Unser kurdischer Mitarbeiter Mehmet Emir besuchte die explodierende Agglomeration vor einigen Wochen. Hier sein Kommentar zu seiner Fotoserie.

Nach der langweiligen Stadt Elâzig, in der ich aufgewachsen bin und in der meine Eltern leben, möchte ich meine Schwester und ihre Kinder in der pulsierenden Stadt Diyarbak?r besuchen. Sie wohnen in einem von vielen neuen Stadtteilen, die in den letzten Jahren entstanden sind. Viele hochstöckige Wohnhäuser. Eines neben dem anderen. Zwischen 15 und 20 Stockwerke sind sie in der Regel hoch. Dicht nebeneinander liegen sie. In der warmen Jahreszeit ist kein Lufthauch zu spüren. Sehr wenig Grün, sehr wenige Parkanlagen gibt es in der Stadt. Was sie an Gärten zu wenig hat, hat sie an Moscheen zu viel. Die Shoppingcenter der Stadt machen sie zu einem «globalisierten» Terrain. Die Stadtmauern aus Basaltstein sind fünf Kilometer lang. Nach der chinesischen Mauer sind das die längsten antiken Stadtmauern der Welt. Sie sind bis zu zwölf Meter hoch und bis zu fünf Meter dick. Sie sind ausschließend und einladend zugleich, denn es gibt vier große Tore: Dag Kapisi (Bergtor) oder Harput Kapisi im Norden; Urfa Kapisi oder Rum Kapisi im Westen, Mardin Kapisi oder Tel Kapisi im Süden; Yeni Kapi (Neues Tor), Dicle Kapisi (Tigristor) oder Su Kapisi (Wassertor) im Osten.

Diyarbakir ist auch für seine Gefängnisse sehr berühmt. Die Militärjunta steckte mit Vorliebe kurdische Politiker_innen und Revolutionär_innen in diese Gefängnisse. Die ganze Stadt wurde immer wieder mit Menschen gefüllt, die nicht freiwillig nach Diyarbakir kamen. Entweder die Evakuierungen im Gefolge von Staudammprojekten oder die Zerstörung der Dörfer durch das Militär haben die Menschen aus den ländlichen Gebieten in diese Stadt gezwungen.

Die Altstadt in Diyarbak?r wird von Menschen bewohnt – anders als historische Zentren im Westen, die zu Tourismus-Fassaden, zu Oligarchen-Adressen oder zu Museen ohne Wohnbevölkerung geworden sind. Als meine Nichte und ihr Freund mir die Stadt zeigten, gingen wir auch durch diese Stadtteile. Jahrhunderte alte Häuser, sehr enge Gassen. Scharenweise Kinder, die mich, sobald sie meinen Fotoapparat sehen, für einen Touristen halten. Ich brauche nur kurdisch zu reden beginnen, und schon entfernen sie sich von mir. Obwohl so viele Häuser in den letzten Jahren entstanden sind, hat der innere Teil der Befestigungsanlage immer noch nichts an architektonischem Reiz verloren. Der Basaltstein macht, dass die Häuser immer noch sehr edel wirken. Fürs Fotografieren spendet das Grün des Tigris unterhalb der Befestigungsanlage ein spezielles Licht. Ein bisschen enttäuscht bin ich von der aktuellen Stadtplanung. Seit vielen Jahren stellen die Kurd_innen den/die Bürgermeister_in. Aber mit den Bewohner_innen menschliche, ökologische und lebenswerte Stadträume zu gestalten, müssen auch die kurdischen Politiker_innen noch lernen …

Fotos und Text: Mehmet Emir