eingSCHENKt: Man kann einen Menschen mit einer feuchten Wohnung genauso töten wie mit einer Axttun & lassen

Steige ich im ärmsten 15. Wiener Gemeindebezirk in die U-Bahn und im noblen 1. Bezirk am Stephansplatz wieder aus, dann liegen dazwischen vier Minuten Fahrzeit – aber auch vier Jahre an Lebenserwartung der jeweiligen Wohnbevölkerung.Was macht den Unterschied zwischen City und Fünfhaus? Vier Faktoren: Es sind die Unterschiede erstens in den gesundheitlichen Belastungen, zweitens in den Bewältigungsressourcen und Erholungsmöglichkeiten, drittens in der gesundheitlichen Versorgung und viertens im Gesundheitshandeln. Das eine bedingt das andere. Stress durch finanziellen Druck und schlechte Wohnverhältnisse gehen Hand in Hand mit einem geschwächten Krisenmanagement und hängen unmittelbar mit mangelnder Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und einem ungesunden Lebensstil zusammen.

Ich stehe an einem reißenden Fluss. Da höre ich den Hilferuf eines Ertrinkenden. Ich springe ins Wasser, lege meinen Arm um ihn, ziehe ihn ans Ufer und mache Nasen-Mund-Beatmung. Und dann, gerade als er wieder von selbst zu atmen beginnt, höre ich einen neuen Hilferuf. Also wieder rein in den Fluss, festhalten, hinausziehen, beatmen – und noch ein Hilferuf. Und so geht es weiter ohne Ende in Sicht! Ich bin so beschäftigt, Menschen aus dem Wasser zu ziehen und zu beatmen, dass ich keine Zeit habe, herauszufinden, wer zum Teufel diese ganzen Leute ins Wasser wirft! Mit dieser Geschichte des Mediziners Irving Zola entwickelte sich der Ruf: «Moving upstreams!» Beweg dich stromaufwärts, wo die Krankheiten entstehen. Schau flussaufwärts zur Quelle, wo die Ursachen liegen.

Man kann einen Menschen mit einer feuchten Wohnung genauso töten wie mit einer Axt. Wer die Situation von Mindestsicherungsbezieher_innen weiter verschlechtert, Arbeitslose statt Arbeitslosigkeit bekämpft, die Chancen im Bildungssystem blockiert oder prekäre Niedriglohnjobs fördert, der verschlechtert die Gesundheitssituation im Land. Ernährung, Bewegung, Schlaf – die sogenannten Lebensstilfaktoren – gehören zu einem von vier Bereichen, um Ungleichheiten zwischen Arm und Reich zu reduzieren. Wenn aber Vorschläge zur Gesundheitsförderung kommen, dann immer einzig beim Lebensstil. Da sollte man eine Regel einführen: Für jeden Vorschlag, den jemand beim Verhalten macht, muss er einen zur Reduzierung schlechter Wohnungen machen, einen zum Abbau von Barrieren im Gesundheitssystem und einen zur Stärkung der persönlichen Ressourcen. Gesundheitsförderndes Verhalten ist am besten in gesundheitsfördernden Verhältnissen erreichbar. Stromaufwärts zur Quelle.

In einer aktuellen Studie der Armutskonferenz melden sich Betroffene zu Wort, zum dritten Faktor, den Barrieren im Gesundheitssystem. Thematisiert wurde der mangelnde Zugang zu Gesundheitsleistungen, die Unterschiede Stadt – Land, Nicht-Leistbarkeit, Unverständlichkeit von Diagnosen und Befunden, Schwierigkeiten bei Gutachten, Beschämung und Ängste. Leiste ich mir den Selbstbehalt für neue Stiftzähne oder zahle ich die Miete für meine kleine Wohnung? Es sind Fragen wie diese, mit denen die Linzerin Sonja Taubinger öfters konfrontiert ist. Im Zweifelsfall entscheidet sie gegen ihre Gesundheit. Aus leicht nachvollziehbarem Motiv: «Was helfen mir die schönsten Zähne, wenn ich damit zurück auf die Straße muss?» Sonja Taubinger verkauft in Linz die Straßenzeitung «Kupfermuckn». Sie weiß nur zu gut, wie schlimm es ist, obdach- und schutzlos zu sein.