In der „Sozialmissbrauchs“-Debatte ist der Spiess umzudrehentun & lassen

Scham, Angst und Unwissenheit

Wer von Missbrauch in Bezug auf die Sozialhilfe reden und dabei seriös bleiben will, muss den Spieß umdrehen. Die Gemeinde Wien erspart sich zig Millionen Schilling, weil sie es unterlässt, offensiv aufzuklären, welche Menschen anspruchsberechtigt wären. Warum spricht hier niemand von kommunalem Sozialbetrug? Unter anderem, weil es schwierig scheint, die verdeckte Armut in Wien statistisch zu erfassen.“Sozialministerin Elisabeth Sickl (FP) bezieht neben ihrer 1,8-Millionen-Schilling-Gage als Ministerin auch eine Witwenpension. Von der Pensionsreform, die sie als Ministerin zu verantworten hat, ist sie nicht betroffen und bleibt weiterhin eine `überversorgte` Witwe“, war im Standard vom 29. Juli zu lesen. Überversorgten Witwen dieser Sorte bleibt erspart, von Meinungsbildnern wie Krone, Kurier oder Ganze Woche als „Sozialschmarotzer“ abgestempelt zu werden. Die „Sozialschmarotzer“ sind immer die anderen. Nämlich die Schwachen, die das sozialstaatliche Hilfesystem punktuell austricksen und so angeblich den Staat oder die Stadt in eine Haushaltskrise stürzen. Neuerdings fällt eine rassistische Schlagseite dieser „Missbrauchs“-Debatte auf: Afrikanische Asylwerber, auf die der Verdacht des Drogendeals fällt, geraten als angeblich sozialhilfebeziehende Betrüger mächtig in die Schlagzeilen (siehe Faksimile aus dem Kurier), während niemand auf die Idee kommt, ein Gesellschaftssystem kriminell zu nennen, das die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.

Wer von Missbrauch in Bezug auf die Sozialhilfe reden und dabei seriös bleiben will, muss den Spieß umdrehen. Die Gemeinde Wien – oder allgemein gesprochen: die Kostenträger der Sozialhilfe – ersparen sich zig Millionen Schilling, weil sie es unterlassen, offensiv aufzuklären, welche Menschen anspruchsberechtigt wären. Der Salzburger Armutsforscher Nikolaus Dimmel: „Die Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe ist ein Faktum. Ein erheblicher Teil derjenigen, die hilfsbedürftig sind, die in materieller Not leben, die ausgegrenzt wurden, nimmt die Leistungen, die ihnen rechtlich zustehen, nicht in Anspruch. Man spricht von diesem Personenkreis als der `Dunkelziffer der Armut` oder `verdeckter Armut`. Die gegenwärtige Form der Kostentragung ist eine der Ursachen dieser Sozialhilfemisere. Da die Gemeinden – je nach Bundesland unterschiedlich intensiv – zur Kostentragung der Landes-Sozialhilfe herangezogen werden, hat sich in den Gemeinde das Interesse durchgesetzt, möglichst wenig Sozialhilfefälle zuzulassen. Entsprechend hoch ist der soziale Druck auf die Betroffenen.“

Die Interessenslage ist so eindeutig, dass man beinahe geneigt ist, Verständnis dafür aufzubringen, dass die Gemeinde gar nicht wissen will, wievielen Menschen Sozialhilfe zusteht und wieviele – aus Unwissenheit oder aus anderen Gründen – den Gang zum Sozialamt vermeiden. Anderswo wird das Ausmaß der verdeckten Armut sehr wohl erhoben. Mit ziemlicher Exaktheit lässt sich z.B. sagen, dass in Berlin neben den etwa 270.000 SozialhilfeempfängerInnen 300.000 Menschen in verdeckter Armut leben; dass in der gesamten Bundesrepublik auf 100 SozialhilfeempfängerInnen rund 110 Personen kommen, die ihre Rechtsansprüche auf Sozialhilfe aus Scham, Angst vor dem Sozialamt und Unwissenheit über ihre Rechte nicht wahrnehmen.

Prof. Peter Grottian vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin: „Es gibt keine erkennbaren Versuche der politisch Verantwortlichen, dieses Problem in den Griff zu bekommen, weil sich die Kommunen finanziell überfordert fühlen würden, wenn all diejenigen Sozialhilfe und andere Hilfen zum Lebensunterhalt beantragen würden, die ein Recht darauf hätten.“ Eine Gruppe, die unter verdeckter Armut zu leiden hat, seien die alten Menschen: Aus Angst davor, dass die eigenen Kinder für den Lebensunterhalt herangezogen werden könnten, wagten viele Alte den Gang zum Sozialamt nicht.

Die Gemeinde profitiert von der breiten Nichtinanspruchnahme

Wie wirkt sich das budgetär aus? Der Politikwissenschaftler Grottian nennt die für Deutschland gültigen Zahlen: „Verglichen mit der Zahl der verdeckt Armen ist das Ausmaß des Sozialmissbrauchs nach unseren Erkenntnissen gering: Der wirtschaftliche Schaden für die Kommunen liegt bei etwa 283 Millionen Markt, das sind zwei Prozent des Gesamtaufwandes für die Sozialhilfe. Demgegenüber stehen 4,48 Milliarden Mark, die die Kommunen jährlich durch die verdeckte Armut `sparen`. Noch ein Vergleich: 140 Milliarden Mark gehen gehen jährlich durch Steuermissbrauch verloren.“

Mit einer Anzeigenkampagne unter dem Motto „Fehlt Ihnen was?“ wollen das Otto-Suhr-Institut, die Caritas Berlin und andere Wohlfahrtsverbände nun das Wissen verbreitern, wer überhaupt Anspruch auf Sozialhilfe hat. Eine entsprechende Kampagne müsste eigentlich sofort auch die Gemeinde Wien starten, wenn sie sich den Vorwurf ersparen will, die breite Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe bewusst einzukalkulieren, um die Sozialausgaben einzufrieren.

Spätestens seit der Caritas-Studie 1993 (Hauser/Hübinger: „Arme unter uns“) weiß man, dass

  • 70,7 Prozent aller Armutsbetroffenen unzutreffende Vorstellungen hinsichtlich der Rückzahlungs- bzw. Regressverpflichtungen in der Sozialhilfe hatten;
  • 55.8 Prozent aller Armutsbetroffenen fälschlich meinten, Arbeitseinkommen schließe grundsätzlich den Bezug von Sozialhilfe aus;
  • 44,4 Prozent fälschlich meinten, auch der Bezug von Arbeitslosengeld schließe grundsätzlich einen Sozialhilfebezug aus;
  • 40,1 Prozent irrtümlicherweise vermeinten, ihr privates Sparbuch vor dem Sozialhilfebezug bis auf Leerstand aufbrauchen zu müssen.

Diejenigen Personen, die unzweifelhaft einen Anspruch auf Sozialhilfe hätten realisieren können, taten dies mit folgenden Begründungen nicht:

  • 57 Prozent meinten, ihr Einkommen erscheine ihnen für einen Sozialhilfebezug zu hoch;
  • 56 Prozent meinten, dass sie allemal für sich selbst auch in Notlagen sorgen könnten;
  • 47 Prozent war jeder Kontakt mit dem Sozialamt derart unangenehm, dass vorübergehende Bedürftigkeit in Kauf genommen wurde;
  • und 43 Prozent wollten weder Eltern noch Kinder mit Sozialhilfeangelegenheiten belasten.
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