Menschen am Rande der Europäischen Kulturhauptstadt 1999tun & lassen

'Brecht mit Goethe'

„Kultur heißt für mich: Wie geht die Gesellschaft mit ihren Randgruppen um?“ sagt eine Rollstuhlfahrerin. „Armut in Weimar ist für viele Besucher etwas Neues, beinahe ein Widerspruch“, sagt die Verkäuferin der ersten Weimarer Straßenzeitung. Beide ahnen, daß die sozial Ausgegrenzten in Weimar nach diesem „Kulturhauptstadtjahr 99“ noch ein wenig ausgegrenzter sein werden…Ob Stockholm, Thessaloniki, Kopenhagen, Lissabon, Antwerpen oder Dublin: In keiner anderen Europäischen Kulturhauptstadt bisher hatten Vergangenheit und Tradition eine solch große Bedeutung für die Definition von Kultur wie in Weimar. Goethe-Nationalmuseum, Schiller-Haus, Bach-Denkmal, Liszt-Haus, Cranach-Altar, Herder-Kirche. Noch nirgends war die Orientierung der „Kultur“ auf ein internationales Publikum, auf ein Publikum „von außen“ so stark. Weimar ist die bislang kleinste aller Europäischen Kulturhauptstädte. In diesem Jahr warten auf 60.000 Einwohner geschätzte sechs Millionen Besucher.

Große Hoffnungen wurden mit dem Kulturevent, für das in den letzten Jahren eine Menge Geld nach Weimar floß, verbunden. Allem voran sollte die historische Altstadt, die in 40 Jahren DDR-Mangelwirtschaft zunehmend verfallen war, saniert werden. Bewußt lenkte man die Gelder auf das Stadtzentrum und nahm die Vernachlässigung der Außenbezirke in Kauf: Plattenbaugebiete, Arbeitersiedlungen, ehemalige Industriegebiete – wo seit der Wiedervereinigung mit der BRD mangels wirtschaftlichen Interesses kaum etwas geschehen ist. Alles in der Hoffnung, daß eine restaurierte Altstadt mit dem Fremdenverkehr als Katalysator die gesamte Wirtschaft der Goethe-Stadt ankurbelt. Denn die Situation der ostdeutschen Kleinstadt ist trist: 17% Arbeitslosigkeit, dazu noch die sogenannten „verdeckten Arbeitslosen“, Obdachlose, von Armut akut bedrohte Menschen – Phänomene, die man noch vor zehn Jahren in der damaligen DDR nicht kannte.

Dank milliardenschwerer Städtebauförderung gelang es Weimar tatsächlich, in kürzester Zeit seine Infrastruktur zu modernisieren. Kanäle, Wasserversorgung und der Zustand der Straßen liegen in vergleichbaren ostdeutschen Städten oft noch im Argen. In der Weimarer Altstadt sieht man zehn Jahre nach der Wende auch kaum mehr eine Ruine. „Der Preis der raschen und lückenlosen Sanierung“, relativiert der Weimarer Architekt Ulrich Hugk, „ist der vollkommene soziale und funktionale Wandel des Stadtzentrums.“ Die alltägliche Versorgung wich einer auf zahlungskräftige Touristen hoffenden Gastronomie, so manches Café der Einheimischen machte einem Geldinstitut Platz. Viele Wohnungen in den prunkvollen, aber während der letzten Jahrzehnte verkommenen Jugendstilvillen am Rande der Altstadt waren nach der Renovierung für die alten Mieter nicht mehr zu bezahlen.

(Zwischentitel) Die erste Weimarer Straßenzeitung

Am Bahnhofsvorplatz verkauft Kristina Ehrenreich die erste Weimarer Straßenzeitung. „Brecht mit Goethe“ heißt sie doppeldeutig und zeigt auf dem Titelblatt den großen sozialistischen neben dem großen bürgerlichen Dichter Deutschlands. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, private Verschuldung – das sind die Themen, die Frau Ehrenreich mit anderen Weimarer Sozialhilfeempfängern gerade im Kulturstadtjahr ins Bewußtsein der Öffentlichkeit bringen will: „Armut in Weimar ist für viele Besucher etwas Neues, beinahe ein Widerspruch“. Kristina Ehrenreich ist langzeitarbeitslos und alleinerziehende Mutter dreier Kinder. Neben dem Verkauf der Straßenzeitung engagiert sie sich in der Arbeitsgruppe Sozialpaß. Ihr Ziel ist, daß Waren und Dienstleistungen für Einheimische billiger werden als für Touristen. „In der Hauptsaison lagen die Preise schon bisher höher als unter’m Jahr, 1999 werden sie nun generell steigen. Und ich befürchte, daß die Preise nach dem Kulturstadtjahr nicht wieder runtergehen.“

Trotz der angespannten sozialen Lage begrüßt es Frau Ehrenreich durchaus, daß öffentliche Mittel in die Renovierung und Verschönerung ihrer Stadt fließen. Die Neugestaltung des Bahnhofsvorplatzes, der die alten Bäume und all die Hecken wichen, empfindet sie allerdings als Mißachtung der Weimarer Bürger: „Der Bürgermeister erklärte die Übersichtlichkeit dieser anonymen Reißbrettgestaltung damit, daß man so den Platz von „unerwünschtem Klientel“ freihält“. Ungemütliche Bänke ohne Lehnen, über den ganzen Platz verstreut, statt kommunikativer Sitzgruppen tun ihr übriges dazu, daß der Platz nun von niemandem mehr angenommen wird. „Gerade arme Leute, die nicht aus der Stadt rauskommen, fanden hier einen Freiraum“, erinnert sie, „den sie nach 1999 nicht mehr zurückbekommen. Man darf uns nicht einfach an den Rand der Kulturstadt verdrängen!“

(Zwischentitel) Die Kulturstadtränder

Die Siedlung Landfried heiße eigentlich „Blechbüchsenviertel“, berichtigt Steffen van Empel, der in der Arbeitersiedlung im Norden von Weimar aufgewachsen ist und nun schon seit 42 Jahren hier lebt. 1918-1920 wurden die Holzhäuser vom benachbarten Weimar-Werk errichtet, das zu DDR-Zeiten mit 6.000 Bediensteten der größte Arbeitgeber der Stadt war. „Früher hieß es, hier müßte man die Miete mit dem Revolver eintreiben, so arm waren die Leute“, erinnert sich der gelernte Maschinenschlosser. „Das ist nun längst Geschichte, aber Akademiker wohnt hier nach wie vor keiner.“

Nachdem die Siedlung 40 Jahre DDR-Mangelwirtschaft überdauert hatte, hofften die Bewohner nach der Wiedervereinigung auf eine rasche Sanierung ihrer heruntergekommenen Häuser. Vor allem auch, weil der „Landfried“ ob seiner architektonischen Einzigartigkeit und seiner städtebaulichen Qualität 1992 in die Liste der Kulturerbgüter aufgenommen wurde. Der heutige Zustand des „Blechbüchsenviertels“ zeigt, daß diese Hoffnung enttäuscht wurde. „Die Sanierung der Häuser ist viel zu teuer“, weiß van Empel, der seit ein paar Jahren der Sprecher der Bewohner gegenüber der Stadtverwaltung und der Wohnungsgesellschaft ist. „Man konzentriert sich lieber auf die Innenbereiche, wo Goethe und Schiller rumgelaufen sind, vergißt aber das Ringsherum. Das hier ist auch ein alter Stadtteil, der in diesem Jahr sogar seinen 80. Geburtstag feiert!“

Um das Schlimmste zu vermeiden haben die Bewohner der zweigeschoßigen Reihenhäuser zur Selbsthilfe gegriffen, Dächer und Fenster erneuert, Fassaden gestrichen und Gasheizungen in Eigenregie installiert. Rückerstattung der Investitionen gab es vom Vermieter keine, und auch das Denkmalamt hielt sich bedeckt. Drastischer ist die Situation in jenem Teil der Siedlung, der von dreigeschoßigen Mehrparteienhäusern eingenommen wird. Hier blieb jede Renovierung aus, in den Gärten lagert Müll, die Schuppen in den Höfen verrotten. Jene Mieter, die es sich leisten konnten, zogen aus, zurück blieben Arbeitslose und Rentner. Das Sozialamt quartierte in die leeren Wohnungen Sozialhilfeempfänger und „Problemfälle“ ein und trug seinen Teil dazu bei, daß das Viertel mittlerweile in Verruf steht.

„Die Rettung für die Siedlung wären neue Firmen auf dem Gelände des Weimar-Werks. Immer wenn es dem Weimar-Werk gut ging, ging es auch den Leuten am Landfried gut.“ Steffen van Empel sieht die Chance für eine Belebung des Werksgeländes, auf dem seit der Wende nur mehr ein paar Hundert Beschäftigte arbeiten, aber vertan: „Mittlerweile haben sich die neuen Betriebe längst Standorte auf der grünen Wiese gesucht. Die Stadt hat es einfach verabsäumt, diesen an sich gut erschlossenen Standort für Investoren attraktiv zu machen.“ So beschränkt sich die einzige stadtplanerische Maßnahme für die Siedlung auf eine neugepflanzte Allee, die die Häuser von der Hauptstraße abschirmt. Im „Blechbüchsenviertel“ vermutet man den eigentlichen Sinn der Bäume aber darin, daß Kulturstadtbesuchern, die von Norden nach Weimar kommen, der Anblick der verfallenen Häusern am „Landfried“ erspart bleibt.

(Zwischentitel) Zielgruppen und Randgruppen

Knapp acht Milliarden, das sind 130.000 Schilling pro Einwohner, wurden in Vorbereitung auf 1999 allein im öffentlichen Raum verbaut. „Doch wurde verabsäumt“, wirft die Rollstuhlfahrerin Karin Stumpf den Stadtplanern vor, „Weimar in diesem Zuge auch barrierefrei zu gestalten“. Gerade bei öffentlichen Einrichtungen bestünde ein immenser Nachholbedarf, den aber niemand sehen wollte. „Das mag daran liegen, daß es zwar einen Generalbeauftragten für Kultur, aber keinen Beauftragten für Behinderte gibt“, zeigt sich die Behindertenaktivistin entmutigt. „Und was bis heuer nicht geschehen ist, kommt eine Zeit lang nicht mehr nach.“

Oft verhindern die Scheuklappen der Denkmalpflege Verbesserungen und Erleichterungen im öffentlichen Raum – etwa durch die flächendeckende Pflasterung der Innenstadt. Dafür gab es sogar eine spezielle Förderung der EU. Was zur Folge hatte, daß frisch geteerte Straßen wieder aufgerissen und mit Natursteinen gepflastert wurden. Grotesk wird es, wenn das Denkmalamt auf historischen Plätzen das Absenken von Bordsteinkanten für einen barrierefreien Einstieg in Niederflurbusse untersagt. Ganz zu schweigen von der Unantastbarkeit alter Gemäuer, auch wenn diese – etwa als Museen – ganz andere Anforderungen zu erfüllen haben, als vor 200 Jahren: behindertengerechte Adaptierungen stehen nicht einmal zur Debatte.

Dabei geht die Zahl der in ihrer Mobilität eingeschränkten Menschen weit über jene der „klassischen“ Gehbehinderten hinaus. Alte Menschen, Eltern mit Kleinkindern, chronisch Kranke oder auch Sehbehinderte würden alle von barrierefreiem Bauen profitieren. Auf die Anfrage, ob Weimar im Kulturstadtjahr eigene Informationssysteme für blinde, taube oder psychisch kranke Besucher anbiete, entgegnete, so Karin Stumpf, der Amtsleiter für Tourismus, Behinderte seien als Benutzer der Informationsterminals gar nicht vorgesehen. „Kultur heißt für mich“, hält die Rollstuhlfahrerin fest, „Wie geht die Gesellschaft mit ihren Randgruppen um? Läßt man alle an Kultur teilhaben?“

(Zwischentitel) Kulturstadt für alle?

Der Musiker Michael Rötsch war bis vor kurzem in der Jugendarbeit Weimars tätig. Er organisierte Konzerte, kümmerte sich um Nachwuchsbands und leitete den Jugendclub „mon ami“ in der Weimarer Altstadt. 1997 wurde der Jugendclub aus dem historischen Zentrum ausquartiert und zog in das sogenannte „Volkhaus“ um, in einem der „Problemviertel“ in der Weimarer Vorstadt. Wenige Monate später löste die Stadt den Jugendclub – als letztes der zu DDR-Zeiten zahlreichen Jugenzentren Weimars – aus budgetären Gründen auf. „Man muß sich das einmal vorstellen“, kann Michael Rötsch es nach wie vor kaum fassen, „die Kulturstadt Weimar hat in den letzten Jahren systematisch alles an Alltagskultur kaputt gemacht.“

Europäische Kulturstädte vergangener Jahre, wie Stockholm oder Glasgow, setzten bewußt auf kulturelle Aktionen für die breite Bevölkerung und bemühten sich, speziell auch benachteiligte Gruppen – sozial Schwache, Jugendliche, Ausländer u.a. – in das Programm einzubinden. Weimar hingegen setzt auf die Vermarktung des Kulturstadtjahres, sein Programm – seien es die Inhalte, seien es die Eintrittspreise – orientiert sich unverkennbar an betuchten Kunstfeinschmeckern. „Man darf ein Kulturprogramm nicht nur für Rechtsanwälte und Ärzte aus Westdeutschland machen,“ mahnt Michael Rötsch, „man muß es für die ganze Stadt machen, für Kids und Rentner, für Arbeiter und Arbeitslose. Das heißt nicht, daß Kultur nur dumme Proleten ansprechen soll, die sich sonst Fußball und Verona Feldbusch reinziehen. Man darf diese Leute aber auch nicht ausklammern – doch das geschieht in Weimar. Am Arbeitsamt hängt nachwievor kein Plakat der Kulturstadt.“

Weimar ist nicht nur Kulturhauptstadt, sondern auch eine von fünf urbanistischen Modellstädten in der ehemaligen DDR, die vorbildhafte Lösungen in der Stadtplanung finden und umsetzen sollen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich Architekt Ulrich Hugk doppelt enttäuscht vom fehlenden innovativen Ansatz in der Kultur- und Planungspolitik der Stadt: „In vielem läuft Weimar 1999 auf eine eitle Selbstdarstellung hinaus. Statt dessen hätten wir für ein Jahr die führenden Köpfe Deutschlands nach Weimar holen müssen – so wie das zu Goethes Zeiten passierte. Um Impulse für die Zukunft geben zu können, für eine nachhaltige soziale und kulturelle Weiterentwicklung der Stadt und der Gesellschaft. Das wäre unsere Erwartung an die Europäische Kulturhauptstadt gewesen.“


Der Autor ist Stadtplaner und Filmemacher in Wien, Lehrauftrag an der Bauhaus-Universität Weimar, fachpublizistische Tätigkeit, produzierte gemeinsam mit Philipp Krebs das Filmportrait „Wenn ich an Weimar denke …“.

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