Mir sieht man es nicht mehr antun & lassen

Briefe an den Vater

Hallo Vater!

Es ist 2 Uhr in der Früh. Ich kann nicht schlafen. In der Küche sitze ich, neben mir der Kühlschrank, wie in jeder modernen Wienerwohnung. Ich lausche dem Rauschen der Wienernacht. Die anderen sind schon eingeschlafen. Mir gehen so viele Sachen durch den Kopf. Übrigens, bei mir sind es auch am 18. März 25 Jahre geworden, seit ich in dieser Mozartstadt bin. Glaube mir, mir sieht man nicht mehr an, dass ich einer von euch bin. Ich meine äußerlich. Innerlich bin ich zwar zerteilt. Seit dem berühmten Tag führe ich auch einen Krieg gegen mich. Wer ihn gewonnen hat? Ich und nicht ich. Keiner von uns. Du hast uns damals sehr wenig erzählt, wie es denn so hier ist. Du warst gewohnt alleine zu leben. Plötzlich tauche ich in deinem Gefolge hier auf.Kriege gibt es auf der ganzen Welt, in jeder Stadt, in jeder Wohnung, in jeder Beziehung und in einem selbst. Kriege dominieren uns. Ob ich von der Einbürgerungsbehörde ein Jubiläumsschreiben bekommen hätte? Nein, Vater, ich habe es nicht bekommen. Ginge es nach denen, würden sie mich zu dir in die Türkei schicken. Es ist mir klar, dass du 30 Jahre hier gearbeitet hast. Aber warst du etwa ein berühmter Fußballer hier in Österreich? Natürlich nicht.

Wie wären meine 25 Jahre bei euch verlaufen? Vielleicht wäre ich ein Hirte geworden. Nach dem Leben in einer Großstadt könnte ich mir das nun sehr gut vorstellen. Bei mir ist es immer so gewesen: Wenn ich mit dem Leben nicht zufrieden war, bin ich in meine Kindheit geflüchtet. Über deine Kindheit hast mir auch nie erzählt.

Vater, ich komme dir vielleicht viel zu nahe. Aber für die Zeit kann ich nichts dafür. Mir selber bin ich nicht sehr nah. Von dir habe ich das gelernt oder auch nicht. Nie habe ich deine Zärtlichkeit Mutter gegenüber gesehen. Bevor ich hierher kam, warst du nur im Winter für 2 Monate zu Hause. Kaum habe ich mich an dich gewöhnt, warst du schon wieder weg.

Die einzigen Vatererinnerungen waren die Briefe, die du uns immer mit einem Foto, das entweder im Belvedere oder im Schweizergarten gemacht wurde, geschickt hast. Sehr interessante Posen auf den Fotos. Bei diesen Fotos hatten wir nie das Gefühl, dass du ein ganz normaler Gastarbeiter bist und bei einer Straßenbaufirma arbeitest. Diese tollen Anzüge. Die kann ich mir immer noch nicht leisten. Wenn es dich nicht stört, möchte ich dir später über die Zeit in der Baufirma schreiben. Es ist immer noch sehr ruhig. Ich höre Autos vorbeifahren. Autos dürfen um die Zeit ruhig Lärm machen. Kinder aber nicht! Hunde dürfen in dieser Stadt auch alles machen. Ob es auch einen Hundeanwalt gibt? Das weiß ich nicht, Vater! Ich weiß nur, dass es einige Volksanwälte gibt. Von jeder Partei einen.

Bis bald.

Dein Sohn Memo

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