Ringsumtun & lassen

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«Niedrige berußte Gänge, nirgends Hausgärten, und in den neueren Bauten Thür an Thür die kleinen Wohnungen, die Kerker der Kinder», berichtet Max Winter in seinen Stadtreportagen über die Wiener Außenbezirke. Das ist die andere Geschichte zum 150-jährigen Jubiläum des Baus der Prachtstraße am Ring. «Hier die Heimarbeiterin, die in ihrem Kabinett noch den krüppelhaften Mann liegen hat, dort die Witwe, die alle überlebt hat, auch ihre Kinder, als Blick in die eigene Zukunft dienend der jungen Proletarierin, die das benachbarte Gelass bewohnt: ein Kabinett gegen acht Kronen und etliche Heller Monatsmiete.»Die Arbeitslosen und Gelegenheitsarbeiter_innen ringsum in Ottakring, Hernals oder Meidling haben es noch schlechter getroffen als diejenigen, die zumindest einen kleinen Job den ihren nennen dürfen: «Im Dunkel des Frühmorgens eilen sie in die Stadt, in der Schulerstraße, wo die Zeitungsinserate ausgehängt sind, dann zu den genossenschaftlichen Arbeitsvermittlungen und zum städtischen Vermittlungsamt, laufen sich die Füße wund im Wettlauf ums Brot, um dann noch mehr entmuthigt heimzukehren zu den hungernden Kindern, zu der sorgenerfüllten Mutter.» Schlechte Wohnverhältnisse, hohe Mieten und drückende Wohnungsnot machten sich besonders in den Vorstädten Hernals, Ottakring, Fünfhaus und Rudolfsheim existenziell bemerkbar.

Ein 20-jähriger Bursch aus Slowenien lebt um 1900 in Untermiete bei einer Näherin in Ottakring. Später, in seinen literarischen Texten, wird Ivan Cankar die Zeit im Vorstadtelend Wiens so beschreiben: «Die Häuser sind hoch und langweilig; die Leute, die hier entgegenkommen, sind schlecht gekleidet, ihre Wangen sind hohl, und ihr Blick ist unzufrieden.» In der Romangestalt Jereb setzt sich Cankar autobiografisch mit der Verunsicherung, der Scham, aber auch der Stärke, der Wut, der Verstörung eines jungen Mannes auseinander, der von der Ottakringer Vorstadt auf die Ringstraße des Zentrums trifft. «Doch anders war es, wenn er zufällig und unverhofft auf eine große Straße mit hohen, reichen Gebäuden und elegantem Publikum geriet. Er kroch gleichsam in sich, er beugte den Kopf, und mit Händen und Füßen wusste er nichts mehr anzufangen. Er schämte sich, er fühlte sich klein, verwahrlost, lächerlich; als würde er mit seinem Äußeren, seinem fadenscheinigen Anzug, seinem ängstlichen Vorstadtgesicht und seinen linkischen Gebärden das elegante Antlitz der Großstadt entstellen und verschandeln.»

Die Wohnräume von Arm und Reich sind klar getrennt. Innerhalb des Rings Adel, Hof und Besitzende, innerhalb des Gürtels Beamte, Wissenschaft und Gewerbetreibende, und dann die Vorstadt mit ihrem Arbeitslosenheer, mit Bettgeher_innen, Migrant_innen, Prostituierten, Jugendbanden und Verelendeten. Peripherie und Zentrum stehen einander undurchdringbar gegenüber.

Die außen passabel wirkenden Gründerzeithäuser in den von den Innenstädtern gemiedenen Außenbezirken verbergen die dahinter liegende sozialen Problemlagen. «Alles schön, alles neu, wer sollte denken, dass er beim Betreten der ersten Wohnung krassestem sozialem Elend gegenübersteht», beschreibt Max Winter seine Eindrücke. Da ist Architektur bloß Fassade. Der Schein trügt nicht nur, er betrügt die Bewohner_innen um ein besseres Leben.