Von politischen & botanischen Unkräuterntun & lassen

Wiens Surrealismusversorger mit langen Atem: Reinhold Posch

Man müsse die Toten befragen, bis sie hergeben, «was an Zukunft mit ihnen begraben wurde», sagte Heiner Müller, ein seit 1995 toter Dramatiker. Alle diese Toten geben uns möglicherweise mehr Antidepressiva als irgendwelche Lebenden. In der Lerchenfelder Straße 9193 führt der von der Biologie kommende Weltbürger Reinhold Posch eine der liebenswürdigsten Buchhandlungen der Welt; mehr als vier Kunden, und es wird eng zwischen den Werken dieser Toten, unseren Energietankstellen: Joyce, Brecht, de Beauvoir, Pessoa, Arendt, Jandl, Fanon, Marianne Fritz …Wenn Netz-Mächte wie amazon.de und Großbuchvertreiber wie Thalia die Straßen unserer Städte vom Wildwuchs der kleinen Buchläden zu «säubern» beginnen, wird dagegen kein Kraut gewachsen sein? Die Lerchenfelder Straße mit ihrer auffälligen Buchlädendichte blieb wohltuend resistent gegenüber diesen beiden bibliokratischen Supermächten. Das laufende Stadtteilprojekt «Lebendige Lerchenfelder Straße», dessen Hauptziel die Steigerung der Aufenthalts- und Lebensqualität in dieser zwischen dem 7. und 8. Bezirk verlaufenden Straße ist, nährt die Hoffnung, dass diese Resistenz nicht schwindet.

Nur in der Wollzeile im ersten Bezirk haben die Bibliophilen dieser Stadt mehr Geschäfte zur Auswahl als in der Lerchenfelder Straße, die auch als kürzester Weg von der Nationalbibliothek zum Brunnenmarkt, den beiden wichtigsten Lebensmittelversorgern der Hauptstadt, definiert werden kann. Reinhold Posch blickt lerchenfelderstraßenbergwärts und gesteht, dass es ihn mehr hinauf zum Bauernhof zieht als hinunter zum Kaiserhof. Denn Bücher hat er selber so viele, dass er täglich welche verkaufen muss, während er die unvergifteten, frischen Küchenkräuter nur am Brunnenmarkt bekommt, wenn am Samstag die selbst vermarktenden Bauern sich zu ihren anatolischen Fulltime-Kollegen gesellen.

im Jänner 1978 war es so weit. Dr. Posch verabschiedete sich von seinem sicheren Posten im Wissenschaftsministerium und sattelte auf Buchhändler um. In Zusammenarbeit mit Peter Blauensteiners graphischer Werkstatt entstanden die legendären Antonin-Artaud-Sackerln, die Buchhandlung spezialisierte sich auf surrealistische Literatur. Es gab alles von Antonin Artaud über Alfred Jarry bis zu Tristan Tzara, die niemals vollständig erschienene Franz-Jung-Ausgabe bei Nautilus und vieles andere, das nicht einmal in den Buchhandlungen «in der Stadt» auflag.

Tuchenthändler, Tuchenfabrikant? Eh wurscht!

Jede Rating-Agentur würde Herrn Posch dringend empfehlen, die Lagerbestände an surrealistischer Literatur dem Augustin zu schenken und sich auf gängige und zukünftige Konsumgüter wie Kochbücher, Pilgerroutenplaner und Nordafrika-Revo-Reportagen zu konzentrieren. Aus der Sicht solcher Berater muss der Buchhändler Posch seinem eigenen Todestrieb ausgehändigt sein, solange er die Chuzpe besitzt, in der Auslagengestaltung Signale zu setzen, dass hier dem Surrealismus die Treue gehalten werde. Zentral positionierte Covertitel mit Zeichen wie «Hugo Ball» oder «Situationisten» oder «Klaus Wagenbach» sind Codes für eine Szene, die tatsächlich nicht mehr so lebendig ist, wie sie in den 70er- und 80er-Jahren war: «Einerseits gibts kaum mehr Verlage, die Anarchistisches, Dadaistisches, Surrealistisches ins Programm nehmen, anderseits sind die nach diesen historischen Avantgarden Süchtigen mit der Buchhandlung, mit mir alt geworden», meint Herr Posch.

Zusammen mit Resi Sebung, die Anfang der Achtzigerjahre dazustieß, gelang es, die Buchhandlung auf hohem Niveau zu konsolidieren und allerlei Prominenzen wenn auch nicht alle auf Dauer als Kundschaft anzulocken. Lang ist die Liste, es kehren immer wieder ein: Bodo Hell, Marianne Gruber, Wolfgang Boeck, Christoph Ransmayr, Heribert Steinbauer, sofern er wieder ein Loch in seinem Bücherregal frei gemacht hat, es kamen der Tuchentfabrikant Birkowitsch (Anmerkung der Redaktion: Hier übertrieb Hieblinger, verriet Posch dem Augustin. «Birkowitsch war Tuchenthändler. Ich gebe aber zu, dass Tuchenfabrikant um vieles besser klingt. Ich hätte den Händler wahrscheinlich ebenfalls zum Fabrikanten gemacht, es geht ja nicht um eine Dissertation.»)



Von den Surrealisten im engeren Sinn hat das Geschäft aber auch früher natürlich nicht leben können. Wenn ich von der Auswahl der gesellschaftskritischen Titel zwischen Soziologie und Philosophie, vom vorgefundenen Spektrum zwischen Absurde und Realpolitik oder von den Präferenzen für nichttriviale und experimentelle Weltliteratur auf den Grad unserer Verwandtschaft schließen müsste, wenn all die Namen auf den Buch-Rückgraten eine Tendenz spüren ließen, die eine Tendenz seiner geistigen Entwicklung spiegelt, dann kommt Posch aus dem Kral, aus dem auch ich stamme. Allerdings, er konnte schon weit früher als ich mit Mainstreamtexten nichts anfangen. «Damit mir beim Autostoppen nicht fad wird, als 18-Jähriger, hab ich mir in einem deutschen Buchladen den Ulysses von Joyce gekauft. Ich erinnere mich noch, dass ich schriftlich bestätigen musste, 18 Jahre alt zu sein. Ich hab die 1000 Seiten von Anfang bis Ende gelesen, sie schlugen bei mir wie ein Blitz ein. Das heißt Sprache, das heißt Literatur! Die Folge war, dass ich lange Zeit alle Literatur, die hinter Joyce zurückblieb, nicht mehr aushielt. Also a l l e Literatur.»

Mayröcker, die ungekrönte Königin des Ladens

Der Blick des Besuchers fällt auf eine Marx-Bakunin-Kontroverse. «Als Surrealist sind Sie darf ich raten an der Seite Bakunins», versuche ich dem Buchhändler ein konkreteres politisches Coming-out zu entlocken. «Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten», erwidert er. «Als Hegelianer kann ich natürlich um Marx, den Junghegelianer, keinen Bogen machen. Ich muss mich seriös mit ihm auseinandersetzen.» Als Vater eines neunjährigen Sohnes seien ihm aber inzwischen andere Dinge wichtig geworden, etwa die Frage, wie Machtverhältnisse in Familie und Schule auf die Kindessentwicklung wirken, wie eine antiautoritäre Erziehung in Zeiten der Wiedergeburt des Führerprinzips verteidigt und umgesetzt werden könne. »Und schon bin ich bei Bakunin», lächelt Posch (noch so ein «Neoanarchist» wie Jon Gnarr, der crazy Isländer?).

() immer wieder verstopfte Christoph Wagner zu Lebzeiten mit seiner stattlichen Erscheinung das ohnehin nicht allzu geräumige Lokal, die verstorbenen Helmut Eisendle, Bernhard Frankfurter und Gerhard Kofler haben hier gestierlt und gekauft, natürlich die ungekrönte Königin der Buchhandlung: Frau Friederike Mayröcker. Sie hat dem Buchhändler Posch das eine oder andere Gedicht gewidmet.

Von Bakunin, dem «Unkraut» der organisierten Arbeiterbewegung aus marxistischer Sicht, wäre es nun leicht, auf die botanischen «Unkräuter» hinzulenken, über die Reinhold Posch genauso gut Auskunft geben kann wie über den italienischen Futurismus. Die Gespräche, die man im Moment mit Posch und seiner Kollegin Sebung führt, plus die in der Buchhandlungsatmosphäre wie in einem Luftarchiv abgelagerten Gespräche vieler Jahre das macht die Sinnlichkeit des Ladens aus, an die weder die Sinnlichkeit des www.buchvertriebs noch die der großen Handelskette herankommt.

Die Arbeit in der Redaktion ruft, die Zeit reicht nur noch für die Zusicherung des Biologen Dr. Reinhold Posch, eine botanische Führung durch das Gelände des Brigittenauer Frachtenbahnhofs anzubieten. Ob nicht auch dort die seltsame Pannonische Karotte zu finden sei? So habe sein Freund Rudi Hieblinger die Gundelrebe getauft, lacht Dottore Posch. Als angeblicher Bestandteil der urbanen Vegetation, die Posch auf dem legendären Gürtelspaziergang mit dem Gourmet Christoph Wagner «katalogisierte», fand die Pannonische Karotte schließlich im Buch von Beyerl & Hieblinger ihre Debüt-Erwähnung. «Diese poetische Freiheit durfte, ja musste er sich nehmen», sagt der Vegetationsexperte. «Was für ein Wortklang im Vergleich mit der Gundelrebe!»