„Was kriegst du?“ „Ka Luft!“tun & lassen

Sylla Alpha aus der Republik Côte d'Ivoire verkauft seit 2002 den Augustin

Soziologisch betrachtet ist die „Berufsgruppe“ der AugustinverkäuferInnen ein Wunder der Divergenz, eine Vielfaltsverdichtung, wie sie sonst nirgends vorstellbar ist. Das Spektrum reicht vom Analphabeten bis zum Akademiker. Sylla Alpha aus der Republik Côte d’Ivoire, bei uns als Elfenbeinküste bekannt, kommt mit dieser Situation gut zurecht. Dass zugewanderte Intellektuelle wie er im reichen Europa „Sandlerzeitungen“ verkaufen müssen, um zu überleben, sagt einiges über weiß-schwarze Machtverhältnisse aus. Alpha hätte also einiges zu kritisieren an den hiesigen Zuständen -doch seine Sorge gilt den Entwicklungen in seinem Heimatland.Hier ist er Ausländer, dort Inländer. Hier ist er Analphabet, dort Gelehrter. Hier ist er alt, dort ganz jung. Hier ist er Sklave, dort Chef. Hier ist er kraftlos, dort sehr stark. Hier ist er arm, dort reich. Hier ist er Marionette, dort Diktator. Hier ist er harmlos, dort sehr brutal. Hier isst man mit Löffel, Gabel und Messer, dort mit der rechten Hand. Hier haben Frauen und Kinder das Kommando, dort immer die Männer. Das Leben ist ein Theaterstück, und jeder ist irgendwo anders. Zufällig ist das Leben. Zufällig ist das Treffen einer Frau und eines Mannes. Zufällig ist der Tag der Befruchtung. Zufällig ist der Tag der Geburt. Zufällig ist das Gewicht der Menschen. Zufällig ist die Größe der Menschen. Zufällig ist das Benehmen der Menschen. Zufällig ist der Beruf der Menschen. Zufällig ist die Zukunft der Menschheit. Aufpassen und Vorbereitung bringen nichts. Eine außerordentliche Macht hat die Fäden in der Hand …

Applaus in der Radio-Werkstatt des Augustin, nachdem Sylla Alpha seinen neuesten Text ins Mikrophon geredet hat. Bald wird er in der Literatur-Rubrik der Montag-Nachmittag-Sendung zu hören sein. Seit November 2001 lebt und studiert er in Österreich. Vier Jahre erst -und schon kann er den Augustin-Medien (der Zeitung und dem Radio gesellt sich demnächst das Fernsehen zu) einen Pool von deutschen Texten anbieten. „Ich musste meine Angst überwinden, auf Deutsch zu schreiben, -ich bin ja in der französischen Sprache zuhause. Meine Teilnahme an der Schreibwerkstatt und Radiowerkstatt des Augustin hilft mir, sicherer in der neuen Sprache zu werden“, sagt er.

Auch die österreichischen Dialekte interessieren ihn. Vor allem im Vertriebsbüro des Augustin, wo die Mundarten Wiens und der Heimattäler der Zuagrasten aufeinander prallen, spitzt Alpha seine Ohren. Kürzlich überraschte er die Sozialarbeiterin an der Zeitungsausgabestelle. „“Was kriegst du?“ hatte sie Alpha gefragt, der in der Verkäuferschlange auf Zeitungsnachschub wartete. „“Ka Luft!““, antwortete Alpha mit breitem Grinsen. Dem Afrikaner war die Kopie des Wiener Schmähs voll geglückt.

Die Wiener Ruhe, -ein Schock, eine Qualität

Der Soziologiestudent an der Uni Wien, der auch eine Frau und ein Kind zu versorgen hat, ist ganz auf die Augustin-Einnahmen angewiesen, um überleben zu können. Wie er zum Augustin fand? „Ein Österreicher, ich glaube aus einer christlichen Initiative, hat mir den Tipp gegeben.“ Ob er rassistische Diskriminierung erfahren habe? „Mein Stammplatz ist Hütteldorf. In der Regel habe ich es mit netten Menschen zu tun“, sagt Alpha, und wir rätseln, wie viele Höflichkeitseinheiten in dieser Aussage stecken.

Nur einmal habe ein Passant versucht, auf die Zeitung zu spucken, die ihm entgegen gehalten wurde. Warum darf so einer wie du Augustin verkaufen, habe der unfreundliche Zeitgenosse geschrieen. Ein anderer fragte den afrikanischen Kolporteur, ob er denn ein Trinker sei. Alpha verneinte. „Warum darfst du dann den Augustin verkaufen? Der Augustin ist für Leute, die trinken“, wusste der Kunde. „Aber diese Konfrontationen sind Ausnahmen“, bekräftigt Alpha sein prinzipielles Wohlbefinden.

Mit dem Augustin überlebt er, mit dem Augustin verbessert er seine Deutschkenntnisse, mithilfe des Augustin kann er seinem Hobby treu bleiben: „Bei Schwarz-Weiß Augustin bin ich dabei, weil ich schon auf der Elfenbeinküste Fußball spielte und weil man mit diesem Sport nicht einfach aufhören kann.“ So hatte er sich sein europäisches Dasein wohl nicht erwartet, als er die Republik Côte d’Ivoire verließ: dass eine „Obdachlosenzeitung“ eine derart existenzielle Rolle spielen würde! Dabei hatte er keinerlei Illusionen über das „Paradies“ im Norden: „Vielleicht kommt das von der Bildung, die ich genossen habe, aber eine idealistische Vorstellung vom ,reichen Europa‘, die viele andere von Afrika weglocken mag, habe ich nie gehabt. Wo es Reiche gibt, muss es Arme geben. Aus der Sicht vieler Afrikaner/innen war übrigens die Elfenbeinküste ein kleines Europa in Afrika, ein Businesszentrum mit enormer Zuwanderung aus Mali, Senegal, Burkina Faso und vielen anderen afrikanischen Ländern. Viele glaubten, sie kämen ins Paradies, aber auch in diesem relativen Paradies gab es Armut.“

Wenn Alpha den zuhause gebliebenen Freunden oder Verwandten erklären muss, wo genau in Europa er gestrandet sei, reiche die Information „Österreich“ nicht aus. Alpha sagt dann simplifizierend oft lieber „Deutschland“, um sich vor langen Ausführungen zu drücken. „Wer den Begriff Österreich kennt, glaubt in der Regel, es handle sich um einen Teil von Deutschland. Natürlich weiß auch niemand auf der Elfenbeinküste, dass Hitler in Österreicher war.“

In Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste, die wegen der Modernität seiner Skyline das „Manhattan Afrikas“ genannt wird, sei heute vieles anders als zu der Zeit, in der er dort als Journalist über den Alltag der Menschen schrieb. Das politische und gesellschaftliche Klima hat sich enorm verschlechtert – dazu weiter unten. „Was den Puls der Stadt betrifft, den Lärm der Stadt – darin hat sich nichts geändert. Abidjan ist eine afrikanische Stadt und Wien ist eine tote, stille, starre Stadt im Vergleich zu den Städten Afrikas“, erzählt Alpha. „Für Leute von der Elfenbeinküste ist das gesellschaftlich akzeptierte Ruhegebot gleichsam ein Schock. Wir begrüßen uns schamlos, wenn wir einander in den Straßen Abidjans begegnen; hier in Wien ist es ein Wunder, wenn ein ,“Hallo wie geht’s'“ überhaupt erwidert wird.“

Die Wiener Ruhe habe aber auch Qualität für einen, der aus einer unruhig gewordenen Ecke Afrikas kommt. „Man kann auch Frieden zu dieser Qualität der Ruhe sagen, die Abwesenheit von Krieg. Der Sohn des ehemaligen Präsidenten, der die Macht übernahm, hat die Eskalation der seit Jahrzehnten ohnehin bestehenden Konflikte zwischen dem Süden und dem Norden unsres Landes betrieben. Der Norden war traditionell unterprivilegiert, die Menschen aus dem Norden waren von jeder Regierungsmacht ausgeschlossen. Ein Militärputsch schuf Bedingungen für eine Wahl, aus der im Jahr 2000 ein Oppositionspolitiker als Sieger hervorging, der ethnische Diskriminierungen zu bekämpfen versprach, aber erneut zur überwunden geglaubten Diskriminierungspolitik zurückkehrte“, erklärt Alpha.

Eine Werbeagentur in Abidjan …

Die Bevölkerung besteht aus ca. 60 Ethnien, die lange Zeit friedlich zusammenlebten. Einwohner/innen des Nordens sind überwiegend Muslim/innen (mehr als 50 Prozent der Gesamtbevölkerung), während die Bewohner/innen des Südens überwiegend Katholik/innen sind. Im Auftrag der UNO wurden zur Trennung der Rebellen im Norden und dem südlichen Landesteil mehr als 6300 Blauhelme im Land stationiert. Zusätzlich sind etwa 4500 französische Soldaten dort. Letztere agieren ebenfalls im Auftrag der UNO, waren aber schon vor der Krise in Côte d’Ivoire stationiert. Frankreich hat in diesem Land seinen größten afrikanischen Stützpunkt. Anfang November 2004 eskalierte die Situation neuerlich. Die Regierungstruppen unternahmen Luftangriffe auf Ziele im Norden. Das Land habe das Chaos nicht verdient, sagt Alpha. Es könne mit spektakulären Glanzpunkten aufwarten. Lange, palmenbestandene Sandstrände und Badebuchten warteten auf die Tourist/innen der Welt.

Und ein Dr. Sylla Alpha will dabei sein, wenn die Elfenbeinküste Menschen braucht, die es neu konstruieren. „Was wird die Zukunft bringen? Das weiß nur Gott“, sagt der Augustinverkäufer, der gläubiger Muslim ist, und Fundamentalismus jeder Couleur hasst. Die Public-Relation-Ausbildung, die er in Abidjan absolviert hatte, und das Wiener Soziologiestudium könnten Basis für eine eigene Firma im Kommunikationsbereich sein, träumt Alpha: „Vielleicht eine Werbeagentur.“ Auch eine Tätigkeit bei Radio, TV oder Printmedien ist für ihn vorstellbar. Nochmals sei betont: All diese Zukunftsszenarien spielen sich an der Elfenbeinküste ab. Alpha will bei der Neuerfindung der Elfenbeinküste dabei sein. „Ich mag nicht in Europa bleiben. Das ist mein Wunsch. Was tatsächlich passiert, weiß nur Gott“, wiederholt er.

Alpha stammt aus dem Norden. Er hatte wiederholt Schwierigkeiten mit der Polizei. „Mein Familienname verrät den Polizisten, dass ich aus dem Norden bin und er das Recht hat, mich zu schikanieren, zumindest den Ausweis zu verlangen. An diese Situationen erinnerte mich ein Vorfall auf der Donauinsel, wo mich eine Frau, die aussah, als hätte sie eine Uniform an, fragte: Do you have a paper? Nervös suchte ich einen Ausweis in meinen Hosentaschen, später erklärte mir ein anderer Afrikaner, dass die Dame eigentlich nach Drogen fragte.“ Wer den Vorfall – und was der Betroffene dabei fühlte – im Detail wissen will, kann die Ausgabe Nr. 169 durchblättern. Dort ist Alphas erster Beitrag für den Augustin zu lesen.

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