Wer ist mein Nächster?tun & lassen

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Auf diese Frage antworten die biblischen Texte mit einer Geschichte. Da bricht einer Richtung Hauptstadt auf und wird ausgeraubt und überfallen. Die Räuber lassen den Reisenden halbtot im Straßengraben liegen. Viele gehen vorbei und schauen weg. Jetzt beginnt die Geschichte noch einmal.Erste Pointe: Ein „Ausländer“ auf der Durchreise bleibt stehen. Die vermeintlich Rechtschaffenen, Fleißigen und Tüchtigen gehen vorbei. Dieser „Andere“ packt den Verletzten auf seinen Esel und bringt ihn zum nächstgelegenen Gasthof. Pflegt ihn über Nacht, bezahlt, versichert sich, dass gesorgt ist, und kündigt an, auf dem Rückweg noch einmal vorbeizuschauen. Dann geht der Mann aus dem fremden Samaria seiner Wege.

Er ist kein sich selbst verzehrender Helfertyp, kein obergscheiter Gesinnungsakrobat. Für ihn ist es ganz einfach: Unsere Wege haben sich gekreuzt, ich tue das Not-wendende, ich sichere die Rahmenbedingungen, dass es dir wieder besser geht, und ich komme wieder vorbei.

Und dann die Frage von Jesus an seine Zuhörer_innen: Was meint ihr? Wer war dem Überfallenen der Nächste? Das ist die zweite Pointe: Die Frage ist nicht: An wem soll ich Nächstenliebe üben? Hier findet ein radikaler Perspektivenwechsel statt, bricht ein anderer Blick in die Geschichte ein. Nicht der andere ist mein Nächster, sondern ich bin der Nächste zum anderen. Die Frage stellt sich aus der Sicht des in Not Geratenen: Wer ist mein Nächster? Mit den Augen des Opfers sehen, mit der Stimme des Überfallenen sprechen, in den Schuhen des in Not Geratenen gehen. Der in Not Geratene fragt: Wer ist mein Nächster?

Nächstenliebe ist so ausgelegt, nicht die Hilfe für den Nächsten, sondern selbst jemand anderem der/die Nächste zu werden. Deswegen ist es auch ein Schmarrn, in Fernstenliebe und Nächstenliebe zu trennen. Die Geschichte sagt: Wir können uns die Nächsten nicht aussuchen. Weil sie uns aussuchen. Weil wir selbst die Nächsten werden können im Ernstfall.

Das unterscheidet sich nun radikal von den selbst ernannten Samaritern eines völkischen Abendlandes, die Opfer brauchen – Sündenbock-Opfer, um zu sehen und zu handeln. Das unterscheidet sich aber auch radikal vom bevormundenden humanitären Gesinnungshandeln, das Opfer braucht – als ständiges Objekt erobernder Fürsorge. Denn das alles verwandelt aktive Menschen in immerwährende Opfer, passive Almosenempfänger_innen, sozialpolitisch zu Behandelnde, Zielscheiben von Treffsicherheit, in Objekte öffentlicher Moralisierung, in Gute und Böse, Würdige und Unwürdige. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat in diesem Zusammenhang scharfsinnig das Helfen als Opferung und das beständige Schwachhalten der Schwachen attackiert. Der Mann aus Samaria aber ging auf Augenhöhe mit dem Verletzten. Er traute sich in die Nähe des Elends, aber nicht, um sich schamlos daran zu weiden oder in seinem Mitleid selig zu werden, sondern um so effektiv wie möglich aus ihm herausführen zu können. Und er arbeitete mit professionellen Dienstleistern – in Gestalt des Gastwirts – zusammen.

Nächstenliebe ist keine Abstandsmessung, sondern eine Standortbestimmung – so gesehen eine Frage der Zivilcourage.