«Wir sind die Besten!»tun & lassen

Muss die Marseillaise nun auch unser aller Hymne werden?

Land der Söhne? Land der Töchter? Schetzkojedno! Wiener Künstlerinnen wie Ilse Chlan oder Miki Malör haben in den vergangenen Jahren in spannenden multimedialen Kunstprojekten die Bundes- und Nationalhymnen dieser Welt überhaupt in Frage gestellt. Neue, aktuelle künstlerische Interventionen gegen die Institution der Hymne wären angebracht, seitdem wir, die Bevölkerungen der abendländischen Staaten, von den Mainstreammedien belehrt werden, dass nunmehr auch die Marseillaise zur «Hymne aller» geworden sei, die «unser Wertesystem» verteidigten. Von Robert Sommer.

Foto: Mehmet Emir

Aufregung um Karim Benzema – einmal mehr. Dass Real Madrids Offensivspieler vor dem Clásico gegen den FC Barcelona (0:4) auf den Boden spuckte, nachdem die französische Nationalhymne in Gedenken an die Opfer der Terror-Anschläge in Paris abgespielt wurde, wertet man in der Heimat des Fußballstars als Respektlosigkeit und als Verhöhnung der Opfer. Viele fordern, die Nummer 9 aus der Nationalmannschaft zu verbannen. Umso mehr, als das Singen der Marseillaise inzwischen in der ganzen «freien» ist gleich reichen Welt als Bekenntnis zu den abendländischen Werten gilt.

«Zu den wenigen erfreulichen Erscheinungen, welche die Katastrophe von Paris nach sich gezogen hat, gehört der gerade in Deutschland ganz ungewohnte Kampfgeist, der auf einmal von Frankreich aus zu uns herüberschwappt. Allein die Tatsache, dass auf einmal die Marseillaise zu einer Art gesamteuropäischen Hymne wird, ist ein gutes, ein zu mancherlei Hoffnungen berechtigendes Zeichen», schreibt zum Beispiel die bürgerliche Zeitung «Die Welt».

In seinem «Hirtenbrief an unsere Facebook-Schäflein» hat Richard Schuberth in der vergangenen Ausgabe des Augustin dem Hype der französischen Nationalfarben, die auf die Gesichter der «solidarischen» Menschen gepinselt werden, eine Polemik verabreicht. Die Anteilnahme sollte den Toten und den um sie Trauernden, die Solidarität allen, die der Barbarei entgegentreten, gelten. Und nicht der jeweiligen Umverteilungsfirma, auf deren Gelände die Barbarei stattfand. Die Firma namens französischer Nationalstaat, früher Kolonialmacht, heute Neokolonialmacht, sei nicht so unschuldig an der Ausbreitung des islamistischen Terrors. Das enthusiastische Absingen der Marseillaise aus englischen, deutschen, italienischen Kehlen entspricht der auf die Haut gemalten Tricolore, müsste man den «Hirtenbrief» ergänzen.

Ilse Chlan, bildende Künstlerin in Wien, hatte in der Passagengalerie im Künstlerhaus bis 8. November 2015 ihr «Hymnos»-Projekt gezeigt – als Beitrag des Künstlerhauses zum Nationalfeiertag. Dafür hatte die Künstlerin seit 2011 Migrant_innen, neue Österreicher_innen und Asylwerber_innen beim Einüben und Singen der Bundeshymne in deren Muttersprache aufgenommen. Die Einzellieder wurden in einer Videoinstallation zusammengeführt. Ilse Chlans Botschaft: Nationalstaaten legen Kategorien der Zugehörigkeit fest und produzieren damit die Ausgeschlossenen. Migrant_innen leben in einem undefinierten Zwischenbereich, eben in einer «Passage». Sie haben ihr Land verlassen, sind aber in Österreich noch nicht als gleichberechtigte Staatsbürger_innen angekommen. Vielleicht werden sie es nie sein, auch wenn sie die Bundeshymne besser singen als Faymann, Häupl und Schwarzenegger zusammen genommen.

«Sie wissen doch, wozu Hymnen dienen»

Radikaler und mit noch größerem antinationalistischem Furor hat 2005 die Wiener Performance-Künstlerin Miki Malör reinen Tisch mit den Nationalhymnen der Welt gemacht. Sie hat sich durch alle 194 Nationalhymnen gehört, die es auf dem Planeten gibt, und sie auf Herkunft, Ästhetik und Wirkung hin analysiert. Gut ein Viertel davon gab es im Theaterstück «nationalHYMNEN» zu hören. Vorgetragen werden die patriotischen Lieder entweder von Miki Malör selbst oder vom Chor Gegenstimmen. Der stellt quasi das Volk, die Menschen dar, für die die Hymnen gedacht sind und gemacht wurden. Das Wiener Künstlerkollektiv monochrom sorgte bei «nationalHYMNEN» für den theoretischen Hintergrund und philosophierte über das Wesen und die Wirkung einer Hymne. Für alle im Publikum gerieten diese Abende zu einem Aha-Erlebnis. Die Hymnen sind pathetisch und völlig kompromisslos, das ist ihre Gemeinsamkeit. Offensichtlich ist ihr gemeinsames Ziel, das «Wir sind die Besten»-Gefühl möglichst direkt emotional zu vermitteln.

Miki Malör bestätigte mit diesem Projekt, was der Schriftsteller Erwin Riess einmal in seiner Augustin-Rubrik schrieb: «Sie wissen doch, wozu Hymnen dienen, zur Verherrlichung von Nationen, erwiderte der Dozent. Lesen Sie sich doch einmal die Texte der verschiedenen Nationalhymnen durch und hören Sie dazu die Musik, die meist von Pathos, Gewalttätigkeit und Sentimentalität trieft, und Sie erkennen in den Hymnen eine besonders widerliche Form der nationalen Besoffenheit. Es ist zum Verzweifeln, wenn auch diskriminierte Minderheiten unter diesem Wahn leiden.»

Riess übertreibt hier tatsächlich nicht. Einer Liste der «Süddeutschen Zeitung» entnehmen wir – pars pro toto – Gustostückerl einer barbarisierten Kulturtradition. Aus der Hymne von Costa Rica: «Wenn jemand Deinen Ruhm zu beflecken versucht, wirst Du sehen, wie Dein Volk, mutig und männlich, die rohen Werkzeuge gegen Waffen eintauscht.» Tunesien: «Lasst uns unserem Land zuliebe sterben!» Argentinien: «Gekrönt von Ruhm lasst uns leben – oder mögen wir schwören, ruhmreich zu sterben.» Brasilien: «Wenn wir im Namen der Gerechtigkeit dem Kampf uns stellen, wirst Du sehen, dass keiner Deiner Söhne flieht, und, dass niemand, der Dich liebt, den eigenen Tod fürchtet.» Frankreich (Marseillaise): «Zu den Waffen, Bürger! Schließt die Reihen! Marschiert, marschiert! Auf, Kinder des Vaterlands! Der Tag des Ruhms ist da. Gegen uns wurde der Tyrannei blutiges Banner erhoben.» Iran: «Oh Märtyrer, es hallt wider im Ohr der Zeit euer Schmerzensschrei.» Italien: «Lasst uns die Reihen schließen! Wir sind bereit zum Tod, wir sind bereit zum Tod! Italien hat gerufen!» Japan: «Gebieter, Eure Herrschaft soll dauern! Tausend Generationen, achttausend Generationen, bis Stein zum Felsen wird und Moos die Seiten bedeckt.» Mexiko: «Mexikaner zum Kriegsgeschrei, den Stahl fest in der Hand. Auf dass die Erde in ihrem Innersten erbebe, zum Donnergrollen der Kanonen.» Portugal: «Zu den Waffen, zu den Waffen! Über Land und über See. Zu den Waffen, zu den Waffen! Dem Vaterland zur Wehr.» USA: «Und der Raketen roter Schein, das Bersten der Bomben in der Luft, gaben die Nacht hindurch Kunde, dass unsere Flagge noch da war.» Und so weiter, und so weiter …