Zu Fremden gemachttun & lassen

Migration im Schulbuch: Dürfen die Kids wissen, dass auch Österreich Auswanderungsland war?

«Viele Geschichten werden nicht erzählt», sagt Christa Markom, Mitarbeiterin des Projektes «Migration(en) im Schulbuch». Migrant_innen bleiben als Menschen entweder unsichtbar, fast entmenschlicht – oder werden dauerhaft zu «Fremden» gemacht. Migration wird sowohl in den Medien als auch in der Politik fast immer nur als Problem für die Mehrheit dargestellt. Das fängt früh an. Auch wenn in der Schule und in den Schulbüchern das Thema behandelt wird: Fast immer wird nur ein Teil der Geschichte erzählt – und der oft noch einseitig.Stereotype, große Lücken und eindimensionale Darstellungen im Unterricht und in Schulbüchern sind die Folge. Die Probleme von Migrant_innen, die Diskrimierungen und die vielfältigen Gründe für die Flucht oder Auswanderung sind selten Inhalt von Schulbüchern. Das ist ein Ergebnis des Projektes «Migration(en) im Schulbuch».

In dem gerade auslaufenden Projekt des Ludwig Boltzmann Institutes für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit wurden Schulbücher auf die Darstellung von Migration und von Migrant_innen untersucht. Die Wissenschaftlerinnen Christiane Hintermann, Heidemarie Weinhäupl und Christa Markom haben die verwendeten Schulbücher aus acht verschiedenen Klassen gemeinsam mit Lehrer_innen und Schüler_innen ausgewertet. Die Ergebnisse wurden in gemeinsamen Workshops diskutiert und analysiert. Nicht nur für die Forscherinnen war das Thema spannend, sondern auch für die Schüler_innen von der sechsten bis zwölften Schulstufe aus Wien und Salzburg. Immerhin erhielten sie die Gelegenheit, sich kritisch mit ihrem Lernstoff auseinanderzusetzen. Sie haben fast nebenbei gelernt, scheinbare Autoritäten wie Schulbücher zu hinterfragen – und sie haben die Methoden dazu in den Workshops gelernt.

Der Lernstoff Migration hat vor allem eines gezeigt: Das Thema ist ein Problemdiskurs. Oft wird Migration dabei als Ansturm, Herausforderung oder Bedrohung geschildert. Positive Aspekte oder die Stimmen von Migrant_innen kommen kaum vor. Manche Geschichten werden nicht erzählt, und «einige Wahrheiten werden auch ausgeklammert oder verschwiegen», so Christa Markom. In vielen Schulbüchern sind «die» Migrant_innen «die» Fremden und die «Anderen». Sie werden selten als Teil der Mehrheitsgesellschaft dargestellt. Dabei hat die österreichische Geschichte viele ganz unterschiedliche Perspektiven zu bieten. Österreich ist heute ein Einwanderungsland. Lange Jahre war es ein Auswanderungsland. Spätestens seit der Gegenreformation im 16. Jahrhundert versuchten viele Österreicher_innen in der weiten Welt ihr Glück. Im 19. Jahrhundert war Österreich-Ungarn sogar eines der größten Auswanderungsländer. Die Landflucht aus den ärmeren Bundesländern, wie von Tirol in die Großstädte, oder die Einwanderungen innerhalb der ehemaligen Gebiete der k. u. k. Monarchie sind kaum Thema. Genau wie die wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Gründe, die die Ursachen waren. Dass Österreich oft nur eine Zwischenstation für ein anderes Auswanderungs-Ziel war, wie etwa bei den Ungarnflüchtlingen 1956, wird selten erwähnt. Aber auch die Schwierigkeiten von Migrant_innen wie auch die alltäglichen Diskriminierungen in Österreich spielen in den Schulbüchern kaum eine Rolle. Auch das sind Auslassungen und Schwächen.

Kopftuchmädchen oder Blondine mit Brezel?


Kinder werden im Unterricht oft durch irgendwelche «Stereotype markiert». Sie werden zu Repräsentanten «ihrer» Kultur gemacht, etwa wenn sie Spezialitäten oder Sitten ihrer vermeintlichen «Heimatländer» vorstellen sollen. «Heimatländer», von denen sie teilweise auch nicht viel wissen. Geht es um Menschen mit Migrationshintergrund, findet sich oft das Bild vom Mädchen mit Kopftuch. Selten jedoch gibt es etwa eine «Blondine mit einer Brezel», mokierten sich die Schüler_innen in den Workshops. Blondine und Brezel stehen für die größte Minderheit in Wien: die Deutschen. Diese kommen bei dem Thema kaum vor, genausowenig wie erfolgreiche Migrant_innen. Wenn es um Probleme geht, ist das «Kopftuchmädchen» nicht weit.

Markierungen und Stereotype finden sich in den Schulbüchern immer wieder. Auch bei Berichten über andere Länder kommen immer wieder die Berichte über «Primitive», «aussterbende Indianer» oder Ähnliches vor. Was da gelegentlich durchschimmert, ist ein klar evolutionistisches Weltbild, durch das andere Menschen abgewertet werden.

In zirka 80 Prozent der untersuchten Klassen ist das Schulbuch maßgeblich für den Unterricht. Wie groß der Einfluss auf die Kinder ist, lässt sich nicht genau abschätzen. Die Wissenschaftlerin Markom betont, dass auch viel von den Lehrer_innen abhängt. Wie gehen die mit den Büchern um? Wie wird ein Thema aufbereitet? Wie ein Thema gewichtet? Doch bei allem bleiben die Schulbücher zentral.

Deshalb gibt es ein großes Interesse an den Resultaten dieser Forschungen. Nicht nur Lehrer_innen, Schüler_innen, Schulbuchverlage und das Bildungsministerium legen Wert auf Verbesserungen. Selbst für die Politik war das Projekt «Migration(en) im Schulbuch» so bedeutsam, dass das Bildungsministerium schnell reagierte: Ein Leitfaden zum Thema Darstellung von Migrantinnen und Migranten in den Schulbüchern soll sehr bald erstellt werden. Damit die Schulbücher von morgen alle wichtigen Geschichten erzählen. Von allen Menschen.