Brausebäder, Lakritzengläser, Halskrawattenvorstadt

Mit der geborgten Hasselblad flanierte R. Niedermeyer durch "mein Wien"

Niedermayer_Einsiedlerbad.jpgZeugnisse eines Verlustprozesses, die Schauplätze vor ihrer Zu-Tode-Modernisierung, der Zustand vor dem Verlöschen der für wertlos erklärten städtischen Altlasten vor dem Hintergrund der Angleichung der Weltstädte in der Ästhethik des Neoliberalismus das Thema vergangener und zukünftiger Fotoreportagen im Augustin ist auch jenes von Ronnie Niedermeyer. Mit einer ausgeliehenen Hasselblad unterwegs, hat der Wienbeobachter die Sujets für seinen im Vorjahr erschienen Bildband Zeit und Wien gesammelt. Die Begriffe Foto und Niedermeyer stehen in unserer Geschichte freilich in einem ganz anderen Zusammenhang, als der sprichwörtliche gelernte Wiener vermutet.

Ein aufgelassenes Betriebs-Brausebad der Gaswerke.

Im Narrenturm die Puppe in der Halskrawatte aus Rindsleder.

Der Grabkerzenautomat der Gärtnerei Ziegler.

Ein alter Stammgast am Stammtisch des Gasthauses Nestler in der Güpferlingstraße.

Der Innenhof des Seifensiederhauses.

Der Verkäufer türkischer Brautkleider am Hannovermarkt.

Die Totenkammer im Friedhof der Namenlosen.

Helmut Seethaler in einem aufgelassenen Würstelstand, voll beklebt mit seinen Lyrikzetteln.

Gläser mit 82 Sorten Lakritze in der Lakritzbar.

Wie ein Stück Wiener Poesie liest sich die Liste der Fotoerklärungen. Bilder des wirklichen, bald aber vielleicht schon als obsolet erklärten Wien, und begleitende Texte füllen kurzweilig 364 Buchseiten. Ein Rezensionsexemplar des Buches, vom Verlag zur Verfügung gestellt, wartete unter einer zunehmenden Staubschicht drei Monate lang darauf, von der Augustin-Redaktion rezensiert zu werden. Dann wurde es dem Autor zu blöd und er erschien in der Redaktion mit einer Mutmaßung im Gepäck: Ob es möglich sei, dass das Desinteresse gegenüber seinem Buch mit dem antikapitalistischen Reflex des Augustin zu tun habe, der einen Sprössling von Foto-Niedermeyer quasi automatisch zu einer non important person erklärte. Diese Unterstellung weisen wir von uns; in unserer Naivität hatten wir Niedermeyer für einen bayrischen Allerweltsnamen gehalten, wie Himmelfreundpointner. Aber Ronnies Befürchtung, genährt von entsprechenden Erfahrungen (siehe unten), machte uns auf dessen ungewöhnliche Herkunft aufmerksam. Und so musste der Fotograf, statt über seine Fotos, zunächst über sein Leben reden.

Ronnies Mutter ist in Israel geboren. Dorthin waren aus Russland und Polen, wo die Lage unerträglich wurde, die Eltern der Mutter emigriert. Israel hieß damals Palästina. In dem Dorf, in dem sie lebten, war Ronnies Großvater weit und breit der einzige jüdische Schaf- und Ziegenhirt. Er hat Memoiren hinterlassen. Sein Hirten-Know-how entwickelte sich dank menschlichen Kontaktes mit den arabischen Nachbarn.

Väterlicherseits ist Troppau der Bezugspunkt, das heute in Tschechien liegt. Ronnies Urgroßvater hatte in dieser Stadt das legendäre Gartencafé Niedermeyer gegründet. Die Familie aus Troppau (das urbanistische Kleinod, bis 1918 österreichisch-ungarisch, wurde damals auch Klein Wien genannt) empfand sich als durch und durch österreichisch, nirgends anders als in Wien hätte sich der aus Russland zurückgekehrte Großvater niedergelassen. 1957 gründete er die Handelskette Niedermeyer. Ronnies Vater verkaufte die Firma am Höhepunkt ihrer wirtschaftlichen Power, also zur Überraschung der Verwandtschaft.

Das Gefühl, zwischen zwei Welten zerrieben zu werden


Ronnies Mutter lernte Ronnies Vater in Los Angeles kennen: reziproke Faszination der Schönheit des Partners. Doch auf Schönheit lässt sich keine Beziehung gründen das wusste der vierjährige Ronnie Niedermeyer nicht, als sich seine Eltern scheiden ließen, das weiß er heute. Ronnie, sein jüngerer Bruder und die Mutter mussten sich allein in Wien durchschlagen; die geistige und körperliche Behinderung des Bruders verhinderte eine Vollberufstätigkeit der Mutter. Immerhin sorgte der Vater für eine gute Schulbildung für Ronnie.

Da sich niemand mit mir beschäftigte, habe ich mich mit Büchern beschäftigt, erzählt Ronnie. Kein Tag ohne Lektüre, schon im Vorschulalter. Im Alter von acht Jahren interessierte ihn vorzugsweise die Astronomie. In den Schulpausen sah man Ronnie nicht bei den anderen Schülern: Er verkroch sich in die Schulbibliothek.

Die Mutter blieb eine Fremde in Wien. Weniger als Jüdin, vielmehr allgemein als Fremde fühlte sie sich hier nicht voll respektiert. Als Ronnie 13 war, beschloss sie ihre Auswanderung nach Israel. Denn, obwohl sie religionsfern lebte, ihre jüdische Identität war unverrückbar, und sie war immer bemüht, ihrem Sonn jüdische Traditionen zu vermitteln, erinnert sich Ronnie. Ich selbst erklärte mich schon als Kind zum Atheisten, fügt er lächelnd hinzu.

Aus seiner Wiener Kinderzeit sei ihm kein auf ihn gemünzter Vorfall des Antisemitismus bekannt. Was es bedeutet, von Rassismus betroffen zu sein, erfuhr er erstmals in Israel. Der mit dem Hitlerbild in der Wohnung: Das war der paradoxeste Rufname, den Ronnie je verpasst bekam. Ein Zeichen der Ablehnung seitens jener Nachbarn, die die Sprache der aus Deutschland und Österreich zugewanderten Juden und Jüdinnen pauschal als Hitlers Sprache verachteten. Ronnies gefühlte Ausgrenzung löste sich auf, als er die Schule wechselte. Eine pädagogische Einrichtung, die nach den antiautoritären Konzepten der englischen Summerhill-Schule geführt wurde, bot das Klima, in dem sich Ronnies außergewöhnliche Talente entfalten konnten. Mit 15 Jahren wurde er Assistent des Englischlehrers. Die Porträts seiner Mitschüler, die er zeichnete, fanden besonders unter den zahlreichen äthiopischen Schülern Absatz, die ihre Freundinnen damit überraschten.

So sehr Ronnie diese Schule an den Leib geschnitten schien, so unwohl fühlte er sich in der gespaltenen israelischen Gesellschaft: Ich hatte das Gefühl, zwischen zwei Welten zerrieben zu werden, begründet er seinen Entschluss, nach Wien zurückzugehen. Er tat es im Alter von 18. Die Jahre der Gelegenheitsjobs begannen.

Sie mündeten in das Spezialgebiet der Fotografie. Mit einer alten sowjetischen Fotokamera, die er für vier Euro bekam, nahm er jeden Fotoauftrag entgegen. Die Auftraggeber verlangten das Klischee, Ronnies fotografisches Interesse aber galt dem wirklichen Wien. Mit einer schwedischen Hasselblad dokumentierte er diese Wirklichkeit, die er insbesondere im noch nicht globalisierten und postmodernisierten Wien fand. In Ronnies Kopf entstand ein Buchprojekt und im Brandstätter Verlag die Bereitschaft, aus dieser Phantasie Realität werden zu lassen. Freilich musste sich der Fotokünstler selbst um die Finanzierung kümmern. Ich habe 800 Firmen angeschrieben keine einzige war bereit, das Buch zu sponsern, sagt Ronnie Niedermeyer. Dabei spielte wohl auch der Neidkomplex eine Rolle: Der Sohn vom Niedermeyer geht schnorren, solche Gerüchte seien ihm herangetragen worden, ärgert sich Ronnie Niedermeyer über eine Unterart des Sozialrassismus, das Ressentiment gegen den vermeintlich G’stopften. Dabei hab ich nicht einmal das Geld für den Erwerb einer gebrauchten Hasselblad. Vom Vater, dem Ex-Fotohandelsriesen, erwartete der gründlich aus dem Handel geratene Sohn längst keine Unterstützung mehr, umso mehr schmerzen die Vorurteile, die an den Namen der Familie geknüpft sind. Die Lösung der Buchfinanzierung ergab sich wie im Märchen. Niedermeyers Aufnahmen vom Interieur des Schlosses Thürnlhof in Simmering gewannen eine ungeahnte Bedeutung. Der Wirt des Schlossrestaurants war, was Ronnie nicht wusste, Universitätsrat der Akademie der Bildenden Künste und zudem Freund des PR-Managers der Immobilienforma CPI, die für ihren Jahresbericht einen künstlerischen Fotografen suchte. Als Ronnie Niedermeyer das Buchprojekt eigentlich schon aufgegeben hatte, stellte sich CPI als Mäzen zur Verfügung.

Zeit und Wien hat Ronnie das 364 Seiten dicke Band deshalb genannt, weil sich beim Sichten und Kategorisieren der Fotos herausgestellt hatte, dass unbeabsichtigt immer wieder Uhren im Bild waren. Die verschiedenen Zeiten, die diese Uhren zeigten, wurden zum Kriterium der Gliederung. Und überhaupt: Dass es so viele Uhren im öffentlichen oder halböffentlichen, im gastronomischen und im amtlichen Raum gibt, die es bald nicht mehr gibt, erregt Staunen und gehört diskutiert. Ich jedenfalls klammere mich nicht an die Hoffnung, der Triumph des Mobiltelefons mache diese Uhren, oft auf hohen Pfeilern aufgespießt, unnötig. Ich, handylos, brauche diese Uhren, um zu sehen, dass ich nicht mehr zur letzten U-Bahn rennen muss. Die ist schon längst weg und ich habe Zeit, zu Fuß nach Hause zu gehen, schlendernd und beobachtend, um Details wahrzunehmen, wie es Ronnie Niedermeyer kann.

Info:

Zeit und Wien Ein Reiseführer für Wiener. Christian Brandstätter Verlag, 2007, ca. 364 Seiten, 49,90 Euro