Das «schwarze» Viertelvorstadt

Wilne – ein Spaziergang durch das jüdische Vilnius

Hebräische und jiddische Gedenktafeln, Statuen, eine aktive Synagoge, Stolpersteine:  Wer heute mit offenen Augen durch Vilnius spaziert, kommt an einem nicht vorbei: Die Geschichte der litauischen Hauptstadt ist untrennbar mit der des osteuropäischen Judentums verbunden. Ein Spaziergang von Marita Gasteiger (Text und Fotos).Bis zur Okkupation durch die Nazis 1941 machten die sogenannten Litvak_innen zwischen 30 und 40 Prozent der Stadtbevölkerung aus. Damit war Vilnius die größte jüdische Stadt überhaupt. Wilne, wie die jüdische Bevölkerung Vilnius nannte, galt als Zentrum des jüdischen Religionsstreits im 18. Jahrhundert und erhielt den Beinamen «Jerusalem des Nordens». Auch Antisemitismus und antijüdische Übergriffe änderten dies nicht. Geblieben ist davon wenig: Was die Nazis zerstörten, bauten die Sowjets nicht wieder auf – lehnten sie doch alles Religiöse zutiefst ab. Dennoch gibt es bis heute Spuren all dessen, was die Stadt einst auszeichnete: Vilnius auf Litauisch, Wilne auf Litvakisch, Wilno auf Polnisch und Wilna auf Belarussisch – eine Stadt, die einen Spaziergang wert ist.

Ausgangspunkt dafür ist das Rathaus, mitten in der Didžioji gatvė, einer breiten, zentralen Straße am Rande der Altstadt. Hier zu handeln, war Jüd_innen zwar verboten, doch nur ein wenig nordöstlich davon, in der Vokiečių gatvė, der Deutschen Straße, siedelten einst deutschsprachige Händler und Handwerker, hier handelten auch Jüd_innen. Die Straße entwickelte sich bald zu einem regen Zentrum.

Die Litvak_innen, wie sich die Jüd_innen im polnisch-litauischen Commonwealth selbst nannten, galten als hochgebildet. Eine ihrer Redensarten besagte: «Um Geld zu erlangen, geh nach Łódź, um Weisheit zu erlangen, geh nach Wilne.» Sie lebten zu einem großen Teil im selbstverwalteten jüdischen Viertel in unmittelbarer Nähe der Vokiečių gatvė: Das «schwarze Viertel» wurde es genannt – manche sagen in Anlehnung an die dunklen Gewänder der orthodoxen Juden, manche meinen, aufgrund der schlechten hygienischen Zustände im Stadtteil. Bis weit ins 19. Jahrhundert hielten sich antisemitische Ressentiments und Gerüchte, wie etwa, dass Jüd_innen ihr Brot mit dem Blut christlicher Kinder buken, hartnäckig. Ausgerechnet dieser Teil der Stadt ist heute das touristische Herzstück der Altstadt, mit den alten Kopfsteinpflastern, den engen Gässchen, niedrigen Häusern und den Bögen über die Straße hinweg – letztere dienten als unterstützende Baukonstruktion und gleichzeitig als Fluchtweg im Falle eines Brandes.

Etwas abseits der breiten Vokiečių gatvė, über einen Durchgang erreichbar, befindet sich die Žydų gatvė, die Juden-Straße. Der liberale Bürgermeister von Vilnius, Remigijus Šimašius, ließ das Straßenschild erst kürzlich auch in hebräischer und jiddischer Sprache anbringen, um auf die historische Vielfalt der Stadt hinzuweisen. Dasselbe tat er auch mit der Russischen Straße auf Russisch, der Warschau-Straße auf Polnisch und der Tatar-Straße auf Tatarisch. Eine Aktion, die nicht nur positiv aufgenommen wurde: Bereits nach wenigen Stunden war das russische Straßenschild von Nationalist_innen übermalt. Jenes der Žydų gatvė ist bisher erhalten geblieben, ob es bleiben kann, ist trotzdem unsicher: Eine Regionalpolitikerin kündigte an, Klage einzureichen, denn in Litauen gibt es ein Gesetz, demzufolge alle offiziellen Ortsnamen ausschließlich auf Litauisch sein dürfen. Wenn eine entsprechende Klage Erfolg hätte, müsste auch das Schild der Juden-Straße abmontiert werden.

 

Gaon Elijahu und Karl Marx

Nahe der Stelle in der Žydų gatvė, an der einst die alte Große Synagoge stand, unter Birken und Trauerweiden, befindet sich heute eine Büste des Gaons von Vilne, Elijahu, eines Vertreters des orthodoxen Judentums des 18. Jahrhunderts. Zahlreiche Mythen ranken sich bis heute um seine Weisheit: Mit fünf Jahren soll er die Tora gelesen, mit sieben interpretiert haben. Angeblich schlief er höchstens vier Stunden am Tag, und um nicht einzuschlafen, hielt er seine Füße während des Studiums in kaltes Wasser. Anlässlich seines 200. Todestages wurde besagte Büste 1997 neu angefertigt, das Original war und blieb verschollen. Über dessen Entstehung gibt es verschiedenste Anekdoten: Eine besagt, es handle sich dabei eigentlich um eine misslungene Darstellung von Karl Marx, die ein Kunststudent angefertigt hätte. Einer anderen Version zufolge hatte ein litauischer Künstler nicht bedacht, dass es im orthodoxen Judentum nicht erlaubt war, Gesichter von Personen darzustellen. Die bärtige Büste hätte demnach lange bei ihm zu Hause gestanden. Um sie vor den sowjetischen Behörden zu schützen, hätte er sie als Marx-Büste ausgegeben.

Die Große Synagoge

In der Žydų gatvė gab es neben der Großen Synagoge auch eine dazugehörige Bibliothek: Über 35.000 Bücher soll es darin gegeben haben und in der Synagoge selbst Platz für 5000 Personen. Der Überlieferung nach war das Gebetshaus derart prächtig, dass Napoleon ihm 1812 attestierte, der französischen Kathedrale von Notre Dame ebenbürtig zu sein. Synagoge und Bibliothek wurden während des Zweiten Weltkriegs zerstört, heute steht dort eine Schule. Seit 1990 fordert die jüdische Gemeinschaft der Stadt den Wiederaufbau der Großen Synagoge an ihrem ursprünglichen Ort, doch die Umsetzung lässt auf sich warten. Zusammenhängen mag dies wohl auch mit den kaum aufgearbeiteten Verbrechen der Shoa, an denen zahlreiche Litauer_innen beteiligt waren. Von den ehemals über 100 Gebetshäusern ist nur eine aktive Synagoge erhalten geblieben. Sie diente den Nazis als Lagerhalle. Von den über 60.000 Jüd_innen, die in der Stadt lebten, überlebten knapp 2000 die drei Jahre der deutschen Besatzung.

Gleich zu Beginn der nationalsozialistischen Okkupation 1941 wurden die Jüd_innen in zwei Ghettos gesperrt – im kleinen lebten etwa 11.000 Personen, es befand sich östlich der Vokiečių gatvė und war vor allem für Arbeitsunfähige und alte Personen vorgesehen. Nach zwei Monaten brachten die Nazis und litauische Kollaborateur_innen die Bewohner_innen in den Vorort Paneriai und erschossen sie dort. Das große Ghetto westlich der Vokiečių gatvė blieb bis Herbst 1943 bestehen. Dort hatte der Judenrat seinen Sitz, es gab eine Bibliothek und ein gut besuchtes Theater. Im Anbetracht der vorrückenden Roten Armee wurde das große Ghetto aufgelöst, die Inhaftierten wurden größtenteils ebenfalls in den Wäldern von Paneriai erschossen oder nach Estland deportiert. Zusammen mit dem österreichischen Verein Gedenkdienst ging 2010 der Holocaust Atlas of Lithuania online. Dieser geht von 70.000 Toten in Paneriai aus.

Heute scheint dieses Kapitel der Stadtgeschichte erfolgreich verdrängt – wären da nicht viele kleine Initiativen. Vor dem ehemaligen Gebäude des Judenrats in der Rūdninkų gatvė etwa erinnert eine kleine Messingtafel, ein Stolperstein, an ­Icchokas Rudaševski, der 1927 geboren, 1941 im Ghetto inhaftiert und 1943 in Paneriai erschossen wurde. Durch sein bis heute erhaltenes Tagebuch wurde der junge Mann zum Chronisten des Ghettos von Wilne.

Vilnius, Wilno, Wilna, Wilne

Abgesehen von Büsten, Statuen und Gedenktafeln ist wenig vom einstigen Jerusalem des Nordens geblieben. Die ehemals höchst diverse Stadt ist heute viel homogener: Noch 1900 war Vilnius nicht nur die größte jüdische Stadt überhaupt, sondern auch Zentrum der belarussischen Nationalbewegung, die Stadt war zudem einem starken polnischen Einfluss ausgesetzt. Nur etwa zwei Prozent der Einwohner_innen zu diesem Zeitpunkt waren ethnische Litauer_innen. Heute beträgt deren Anteil über 60 Prozent, weitere knapp 20 Prozent sind Pol_innen. Die jüdische Bevölkerung aber ist in Vilnius – wie in ganz Litauen – nahezu völlig verschwunden. Die verbliebene jüdische Community setzt sich bis heute aktiv für den Wiederaufbau der Großen Synagoge an ihrer ursprünglichen Stelle in der Žydų gatvė ein. Vor allem aber ist sie es, die immer wieder eine aktive Erinnerungspolitik einfordert und damit einen unverzichtbaren Beitrag für die Aufarbeitung der Vergangenheit leistet.