Die sprudelnde Quellevorstadt

Einen zweiten Blick wert – die Quellenstraße zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Josef «Pepi» Bican, Matthias Sindelar, Roman Schramseis … der Nachwuchs der Hertha Wien konnte sich sehen ­lassen, und das ihn speisende Grätzl galt als unerschöpflicher Talentepool. Hannes Gaisberger geht mit der Quellenstraße in die Verlängerung.

Foto: FK Slavia Prag 

Im Artikel in der Augustin-Ausgabe 429 wurde an dieser Stelle der Frage nachgegangen, was mit dem einst bis zu 30.000 Zuseher_innen fassenden Stadion der Hertha Wien in der Quellenstraße passiert ist. Knapp formuliert: Der Verein ging bankrott, und auf dem ehemaligen Stadiongelände steht nun ein Gemeindebau. Das Geburtshaus von Matthias Sindelar liegt schräg gegenüber und harrt einer Renovierung. Österreichs bester Fußballer des 20. Jahrhunderts ist hier aufgewachsen, in die Schule, die Lehre, zur Arbeit gegangen und hat fast sein ganzes kurzes Leben in einem Kabinett in der Nr. 75 gewohnt.

Wenn man von dort den Gellertplatz quert und die Quellenstraße zwei, drei Minuten Richtung Reumannplatz entlangflaniert, stößt man auf das Geburtshaus einer weiteren Fußballlegende: Pepi Bican hat in der Quellenstraße 101 das Licht der Welt erblickt, einem zwar großen, aber schmucklosen Haus. Die Wahl zum besten Fußballer des Jahrhunderts in Tschechien hat Bican zwar knapp gegen Josef Masopust verloren, aber er durfte sich über den Titel «Tschechiens beliebtester Fußballer des 20. Jahrhunderts» freuen. Er soll in seiner Karriere über 5.000 Tore erzielt haben. 1998 wurde sogar ein Planetoid im Asteroidengürtel zwischen Jupiter und Mars nach ihm benannt. Pepi Bican hatte massig Talent, das ihn, «bei entsprechender Disziplin und seriöserem Lebenswandel, zu einem der weltbesten Fußballer prädestiniert hätte». Der leicht tadelnde Unterton der Kulturanthropologen Horak und Maderthaner in ihrem Standardwerk «Mehr als ein Spiel» legt nahe, der Bonvivant Bican habe nicht alles aus seinem Können geschöpft.

Mutter schirmt ab

Sein Vater Frantisek «Franci» Bican war aus Südböhmen nach Wien gekommen, um sich als Hilfsarbeiter durchzuschlagen. Ein Zubrot verdiente er sich als Fußballspieler. Auch Franci Bican dürfte sehr talentiert gewesen sein, er schaffte es bis in die höchste Liga, wo er für die Hertha Wien spielte. Bei einem Spiel gegen Rapid wurde er grob gefoult und zog sich eine schwere Nierenverletzung zu. Bican senior weigerte sich – wohl aus Angst –, einer Operation zuzustimmen, und verstarb an den Spätfolgen dieser Verletzung, als Pepi Bican gerade erst neun Jahre alt war. Die Liebe zum Fußball und wohl auch die materielle Not waren aber so groß, dass auch der Sohn den Beruf des Fußballers anstrebte. Bicans Mutter blieb den Spielen verständlicherweise meist fern, was für alle Beteiligten besser war: «Eine Anekdote aus seiner Anfangszeit bei Hertha Wien erzählt, dass seine Mutter einmal auf das Spielfeld lief und einem Gegenspieler, der gerade ein Foul an ihrem Sohn Pepi begangen hatte, Schläge mit ihrem Schirm versetzte», wie im erfreulicherweise ausführlichen und gut recherchierten Wikipedia-Eintrag Bicans zu lesen ist.

Die schlagkräftige Mutter Ludmilla war eine gebürtige Wienerin böhmischer Abstammung. Ihren Sohn Pepi hat sie auf die Jan-Amos-Komensky-Schule in der Quellenstraße 72 geschickt. Diese Einrichtung bestand seit 1883 und war vielen – vor allem deutschnationalen – Wiener_innen ein Dorn im Auge. In den Komensky-Schulen wurde auf Tschechisch und auf Deutsch unterrichtet, was laut Gesetz eigentlich verboten war. Es kam zu Protesten und Demonstrationen mit tausenden Teilnehmer_innen. Die Grundstimmung der Gegner_innen dürfte ein Leserbrief aus der Bezirkszeitung von 1902 gut treffen. «Seit dem Inkrafttreten des neuen Heimatsgesetzes werden jährlich Tausende von Tschechen in Wien heimatsberechtigt. Wien war, ist und wird eine deutsche Stadt bleiben, deshalb werden sich die Herren Tschechen eben bequemen müssen, ihre Kinder in deutsche Schulen zu schicken. Sollten sie aber ihre Nachkömmlinge durchaus in ihrer edlen Sprache unterrichten lassen wollen, nun, so mögen sie in ihr gelobtes Tschechien zurückkehren, wir weinen ihnen wahrlich keine Thräne nach.» Mit zunehmender Assimilierung und gleichzeitigem Schwinden der Schüler_innenzahlen ging auch die Anzahl dieser Schulen in Wien zurück, derzeit betreibt der privat geführte Schulverein Komensky noch ein Haus im dritten Bezirk.

Dabei waren diese Schulen einst wichtiger Teil der tschechischen Infrastruktur, so wie Greißler, Wirtshäuser und Kulturvereine, schreiben Pramhas und Slapansky in ihrem Aufsatz «Fußballsport und Vorstadt»: «Die tschechische Schule in der Quellenstraße galt für viele aus den nördlichen Kronländern der Monarchie zugewanderte Kinder als erste Orientierungshilfe in der neuen, fremden Umgebung.» Pepi Bican war die Umgebung jedoch vertraut, und mit seinen Brüdern hat er trotzdem lieber Deutsch gesprochen. Das Gebäude in der Quellenstraße 72 liegt unweit des Viktor-Adler-Markts und strahlt noch den Charme einer Fin-de-Siècle-Schule aus.

Von Favoriten nach Prag

Bicans Werdegang lässt sich mit dem des benachbarten, aber zehn Jahre älteren Sindelar vergleichen. Im Nachwuchs bei der Hertha gespielt, Lehre bei einem Betrieb im Bezirk, Karriere bei Großklubs und im Nationalteam. Der junge Pepi hat bei der Firma Farbenlutz gearbeitet, die auch eine Betriebsmannschaft aufgeboten hat. Von dort wurde Bican von Roman Schramseis, dem ehemaligen Hertha-Spieler und fixen Bestandteil des Wunderteams, zur Rapid geholt. Der Legende nach ist er zu seinem ersten Training von der Nr. 101 bis nach Hütteldorf zu Fuß gegangen, nur um dort gleich sieben Treffer zu erzielen.

Seinen kometenhaften Aufstieg konnten nur zwei Dinge stoppen: die Weltgeschichte und Bican selbst. Immer wieder traf er dabei auf seinen Nachbarn Sindelar, sei es als Gegenspieler in der Liga oder als Mitspieler im Nationalteam. Bereits ihr erstes Aufeinandertreffen bei einem Derby wurde 1931 von den Medien als Kampf der Generationen, als Lehrer versus Musterschüler, stilisiert. Rapid konnte dank eines Hattricks Bicans gewinnen, hatte aber langfristig mehr Sorgen als Freude mit dem treffsicheren Pepi.

Was konkret zum Zerwürfnis des eigensinnigen Bican mit dem Disziplinapostel Dionys Schönecker, dem Sektionsleiter von Rapid, geführt hat, ließ sich nie restlos rekonstruieren. Nach ausgiebigem Prozessieren und monatelangen Sperren konnte Bican den Verein wechseln, und über den Umweg der Admira gelangte der gebürtige Wiener schließlich 1937 zu der Slavia Prag.

Die Rapidler haben ihm sehr wohl so manche «Thräne» nachgeweint, und auch Bican wird sich seine Zeit in der Heimat seiner Väter anders vorgestellt haben. Die Fremdherrschaft der Nazis wurde durch das kommunistische Regime der Nachkriegszeit abgelöst. Kriegsbedingt fielen die Weltmeisterschaften 1942 und 1946 aus, und Pepi Bican konnte sich auf dem Höhepunkt seines Könnens nicht mit den besten Spielern seiner Zeit messen. Nach einem langen und erfüllten Leben für den Fußball, das Bican als Trainer sogar bis nach Belgien geführt hatte, genoss er seinen Ruhestand in Prag.

Bei seinen gelegentlichen Besuchen in Wien hat Pepi Bican sich vielleicht auch an jene Zeit zurückerinnert, als in Favoriten Top-Talente wie Schwammerl aus dem Boden schossen und zwei längst verblichene Vereine den Bezirksfußball dominierten, wie sich die «Sport-Zeitung» 1937 erinnerte: «Ja, das waren Kämpfe, wenn die Mannen von der Quellenstraße mit denen vom Rudolfshügel zusammentrafen … Wochenlang war so ein Match das Tagesgespräch im Bezirk, aber auch Fremdlinge machten an solchen Tagen mit heimlichem Gruseln einen Abstecher in den ‹zehnten Hieb›, und sie hatten ihr Kommen nicht zu bereuen.»