Gedenken ohne Menschenvorstadt

Eine kleine Augustin-Museologie, Folge 9: Das Jüdische Museum in Eisenstadt

An beiden Enden von Österreich gibt es ein bemerkenswertes Jüdisches Museum: im Westen Hohenems, im Osten Eisenstadt. Letzteres ist das älteste bestehende seiner Art, hat eine hauseigene Synagoge und ist – fast schon ein bisschen zu malerisch – im Stadtteil Unterberg gelegen. Lisa Bolyos (Text und Fotos) hat bei ihrem Besuch nicht nur Stadtgeschichte gelernt, sondern auch erfahren, dass man sie erjoggen kann.Die Weinhandlung gegenüber dem Schlosseingang heißt «Selektion». Wieso ich schlucken muss? In Monika Helds Roman «Der Schrecken verliert sich vor Ort» gibt es folgende Szene: Die Protagonistin Lena, einst Dolmetscherin bei einem Frankfurter Auschwitzprozess, kauft sich einen Mantel, den sie ihrem Partner Heiner, als Auschwitz-Überlebender Zeuge bei demselben Prozess, vorführt. Er nimmt die eingenähte Marke des Mantels in die Hand, liest, sagt trocken: «Schau, Lena, der Markenname ist Selection.» Bei der Lektüre des Buches war ich noch gewillt zu schmunzeln: Der übertreibt. Der sieht immer nur das eine. Aber nach dem Besuch im Jüdischen Museum Eisenstadt, wieder aufs Neue angekratzt von der Herbheit der Geschichte, wechsle ich Seite: Ich halte zu Heiner.

Geschichte ist: eine Fassade renovieren

Geschichte ist in Eisenstadt (ungarisch Kismárton, also: Kleinmartin), dieser, entschuldigen Sie mich, zweitsinnlosesten Landeshauptstadt der Republik, allgegenwärtig. Immerhin wurden hier in der Gegend Grenzen über Jahrhunderte wild hin- und hergeschoben (und für Grenzen scheint es, wenn man mit bassem Staunen Niessls neueste Pläne für ein Stückerl burgenländischen Maschendrahtzaun verfolgt, ein nicht unterzukriegendes Faible zu geben); Fürst_innen regierten und verschwanden, hinterließen Prunkbauten und prägten Besitzverhältnisse, Nationalitäten wurden gewechselt, und seit dem Mittelalter gab es hier eine aktive jüdische Gemeinde, die vertrieben, zurückgeholt, protegiert, emanzipiert und letztlich vernichtet wurde. Im Stadtbild aber ist Geschichte, wie so oft, mehr schlechte Unterhaltungsindustrie als Alltagsverständnis; mehr frisch gestrichene Fassade als inhaltliche Auseinandersetzung; was, so fair muss man sein, wiederum kein Spezifikum von Eisenstadt ist.

Auch das ehemalige jüdische Viertel in Unterberg-Eisenstadt ist, und das ist ja durchaus Grund zur Freude, hübsch renoviert. Ein Touch von UNESCO, von pittoresken Postkartenmotiven, man geht durch einen Torbogen über den Jerusalemplatz in die Unterbergstraße, die dickwandigen Häuschen biegen und beugen sich in diese und jene Richtung, auch die Straße hat einen sanften Schwung, an einem Eck ein Pfosten mit der alten Schabbat-Kette – mit der wurde die Straße zu Schabbat-Beginn gesperrt. «Die jüdische Gemeinde in Eisenstadt war selbstbewusst», sagt Johannes Reiss, Leiter des «Österreichischen Jüdischen Museums». Er leitet das Haus seit Beendigung des Judaistikstudiums 1988. Zur Judaistik, sagt er, sei er als Siebzehnjähriger im Internat gekommen; ausgerechnet ein Jesuitenpater habe ihm die Liebe zum Hebräischen vermittelt. Die Geschichtspolitik kam später.

Heute geht Reiss in der Stadt, die zu den sieben heiligen jüdischen Gemeinden des Burgenlands zählte, zu den florierendsten ihrer Art, von gezählten zwei jüdischen Haushalten aus. Es erzeugt ein mulmiges Gefühl, dass Geschichte erinnert wird, wo fast niemand mehr ist, Gedenken ohne Menschen. Vielleicht müssen auch Sie an das Schild denken, das Rudolf Herz und Thomas Lehnerer 1990 in München an die Feldherrnhalle montiert haben: «Juden in aller Welt, bitte kehrt zurück, wenn ihr wollt.» Ein Plädoyer für eine andere Erinnerungspolitik.

Das Museum ist in einem Haus unweit der beiden jüdischen Friedhöfe untergebracht. Im ersten Stock, hofseitig, befindet sich die hauseigene Synagoge. Es war die Privatsynagoge der Familie Wertheimer, die hier unter den Esterházys lebte, «wenn Sie wollen, ist das ein bisschen vergleichbar mit einer christlichen Schlosskapelle, es war eine Prestigesache, eine Synagoge im Haus zu haben», so Reiss. Sie wurde nicht zerstört – nicht 1938, während der Novemberpogrome (da war das Burgendland unter dem politisch übereifrigen NS-Gauleiter Tobias Portschy längst «judenfrei»), und nicht in den 1950er-Jahren, als viele der noch bestehenden Synagogen abgerissen wurden – was sollte man schließlich mit Bethäusern machen, in denen niemand mehr beten wollte? Waren ja doch alle weg oder tot. So ungefähr lässt sich die Nachkriegsstimmung im «ersten Opfer des Nationalsozialismus» wiedergeben. Auch die öffentliche Synagoge von Eisenstadt, die schräg gegenüber stand, ereilte das Schicksal der postnazistischen Logik: Das Grundstück wurde in den 1950er-Jahren dem Österreichischen Gewerkschaftsbund, später einer Versicherung verkauft, die Gedenktafel am Gebäude spricht von der Zerstörung der Synagoge, die «an dieser Stelle stand». Dass das Haus die Pogromnacht innen stark angegriffen tatsächlich überstanden hatte und erst in den 1950ern abgerissen wurde, bleibt unerwähnt.

Die Bäuerin, die Henne und das Ei

Eigentlich hatte mich eine Druckgrafik von Issachar Ryback dazu motiviert, das Museum erneut zu besuchen: Eine Bäuerin, die einer Hebamme gleich darauf wartet, dass ihre überdimensionierte Henne ein Ei legt – die symbolische Ordnung der Dinge!, ein Bild aus einem Märchenbuch für Kinder («Mayselech far kleyninke Kinderlech»), das Miriam Margolin in den 1920er-Jahren in Petrograd herausgegeben hatte; im Pessach-Raum finde ich es wieder. Die Räume des Museums sind dem jüdischen Jahreskreis nachempfunden: Der beginnt im Herbst, mit dem ersten des Monats Tischri, und hat zwölf, im Schaltjahr dreizehn Monate.

Vierundvierzig Jahre ist das Museum alt! Es wurde 1972 unter der Ägide des Institutsvorstandes der Judaistik an der Universität Wien (Kurt Schubert) und dem burgenländischen Kulturlandesrat (Fred Sinowatz) gegründet. Und weil es das erste war, trägt es, wunderbar hochtrabend, das Attribut «österreichisch» im Namen. Es ist ein kleines, sehr schönes Museum mit einer permanenten und einer Schwerpunkausstellung, aktuell zur NS-Ermordungsanstalt Schloss Hartheim und ihren burgenländischen Bezügen. In der Dauerausstellung findet man (neben Rybacks Henne & Ei) Exponate wie eine Matzenbrotschachtel oder einen mit Kunstfertigkeit und Witz bestickten Torawimpel aus dem 17. Jahrhundert, den die Künstlerin zwischen Wölfen, Rehen und Blumen mit spirituellen und materialistischen Wünschen an das beschenkte Kind versehen hat. An den Wänden hängen Fotos von fröhlichen Hochzeitsgesellschaften, die in den 1930ern durch Unterberg ziehen, aber auch, nur ein paar Jahre sind vergangen, von burgenländischen Dörfern, die 1938 mit einem «Juden unerwünscht»-Banner versehen wurden.

Training für Gedächtnis und Oberschenkel

Wen das an die Stadt angrenzende Leithagebirge (ob solch morphologisch fahrlässiger Bezeichnung dürfen alle Westösterreicher_innen laut auflachen – die höchste Erhebung liegt bei 484 Metern) mehr reizt: Johannes Reiss bietet Gedenktouren auch joggend an (Joggingtour: siehe Infokasten). Sein leichtfüßiger Gang war mir schon treppauf in sein Büro aufgefallen. Bei so einer Tour joggt man vom Schlosspark zum Wolfs-Mausoleum und weiter ins Leithagebirge hinauf zu einem Baum, der «Beim Juden» heißt. Warum? Ich würde es Ihnen verraten, wenn ich es erfahren hätte. Aber es war chancenlos, die Antwort bei einem gemütlichen Kaffee auf 182 Meter Seehöhe zu bekommen – da werden wir schon bereit sein müssen, uns ein bisschen anzustrengen.

Die jüdische Geschichte von Eisenstadt ist dokumentiert in: Johannes Reiss: «… weil man uns die Heimatliebe ausgebläut hat …», Österreichisches Jüdisches Museum Eisenstadt

Österreichisches Jüdisches Museum

Unterbergstraße 6, 7000 Eisenstadt

www.ojm.at