Gescheit gescheitertvorstadt

Anarchie und Fußballalltag

Der Tiroler Gabriel Kuhn war ein Welttormann, bis es ihn in die weite Welt verschlug. Eineinhalb Kaffeehausgespräche über den Fußball und die Welt.

Freitagabend im Café Ritter, dem Traditionscafé in der Ottakringer Straße. Hier hat einst die Trainerlegende Ernst Happel einen Gutteil seiner Freizeit beim Tarockieren verbracht. Heute haben sich im Ritter der Autor und der Fotograf dieses Artikels mit Gabriel Kuhn, seines Zeichens anarchistischer Publizist und Doktor der Philosophie, verabredet. Kuhn hat sich bereit erklärt, dem Augustin während eines kurzen Wienbesuchs ein Interview zu geben.

Mehr als eine Stunde ist für das Gespräch vorgesehen, anschließend soll es hinüber nach Hernals gehen, wo an diesem Abend der Wiener Sportklub ein Heimspiel austrägt. Aber es kommt anders: Einer kommt gar nicht. Es ist der Autor, den sein Brotberuf an diesem Abend nicht los- und der den Fotograf und den Interviewpartner ohne Gesprächsthema im Kaffeehaus schmoren lässt.

Kein Bier auf der Friedhofstribüne

Fotograf und Philosoph gehen ins Sportklubstadion. Der Autor vertröstet sie mehrmals und erscheint dann doch nicht. Der Fotograf bietet dem Philosophen das auf der Tribüne obligatorische Bier an. Letzterer lehnt ab. Er ist nämlich sXe.

sXe steht für Straight Edge, einen Lebensstil, bei dem auf bewusstseinsverändernde Substanzen wie Alkohol verzichtet wird. sXe ging in den achtziger Jahren aus der Washingtoner Punkszene hervor und verband sich später mit Veganismus. Gabriel Kuhn, der selbst auch vegan lebt, hat darüber ein Buch herausgegeben. Aber all das konnte der Fotograf nicht wissen, als die beiden auf der bierschwangeren Friedhofstribüne gemeinsam das Regionalligaspiel verfolgten.

Am nächsten Morgen sitzt Kuhn schon vor acht Uhr in der anarchistischen Bibliothek in der Lerchenfelder Straße und recherchiert. Nach und nach trifft auch das Augustin-Duo ein, und mit etwa 16 Stunden Verspätung findet das Interview in einem anderen Café doch statt.

Das augustinische Chaos kann den anarchistischen Frühaufsteher nicht aus der Fassung bringen. In seinem Nomadenjahrzehnt zwischen 1996 und 2007, das er sich auf allen Kontinenten mit Gelegenheitsarbeiten wie Strandaufräumen oder Möbelpacken finanziert hat, hat er sich wohl mit schwierigeren Herausforderungen herumschlagen müssen. Heute ist Kuhn in Stockholm sesshaft.

«Ab Ende der Neunziger, als das Internet dann normal geworden ist, habe ich auch Übersetzungen gemacht», erzählt Kuhn. «Ich kann mich erinnern, wie ich in Fiji drei Tage in einem Internetcafé einen Computer quasi gemietet habe.» Seine finanzielle Situation zum Studienende beschreibt er so: «Nachdem ich mit dem Fußball so wahnsinnig viel verdient hatte, habe ich die Reisen nach Ende des Studiums auch mit Sparrücklagen finanziert.»

Mit der Frage, wie viel er verdient habe, schaltet sich der Fotograf in das Gespräch ein. «2.000 Schilling Fixum plus Punkteprämie und Fahrtgeld», erinnert sich Kuhn. «Insgesamt waren das in der Regionalliga zwischen 8.000 und 12.000 Schilling, deutlich mehr als vor dem Abstieg, weil wir in der Liga viel mehr Punkte gemacht haben. Für einen Schüler war das schon sehr viel.»

Einander feindliche Welten

Schon im Alter von 15 Jahren stand das Tormanntalent im Zweitligakader, mit 18 stieg es zum Einsergoalie des FC Kufstein auf. Der Gymnasiast bewegte sich in den späten achtziger Jahren in zwei Welten, die scheinbar unversöhnlich nebeneinander standen. Er interessierte sich für anarchistische Politik und liebte den Fußball: «Da haben sich Widersprüche aufgetan, weil ich mich von gängigen linken Kritiken am Fußball beeinflussen lassen habe: Opium fürs Volk, das sexistische und rassistische Milieu, in dem man sich da bewegt, die autoritären Verhältnisse in Sportvereinen.» Lächelnd fügt Kuhn hinzu: «Ich habe mein fußballerisches Engagement aber ein bisschen dadurch entschuldigen können, dass ich Geld damit verdient habe. Das ist in politischen Kreisen als Arbeit durchgegangen.»

Obwohl inzwischen im Gefolge der Entwicklung einer alternativen Fankultur beim FC St. Pauli politischer Aktivismus und Fußball kein Widerspruch mehr sind, besteht für Kuhn ein Grundproblem immer noch: «Ich halte die Tendenz der Linken, sich in reine moralische Räume zurückzuziehen, für einen Fehler. Dort ist vielleicht alles so, wie man es haben will, aber man verliert den gesellschaftlichen Kontakt.» Er schätze jedenfalls seine Erfahrungen im «Mikrokosmos Fußball» sehr.

Der Freiheitsdrang und die Weltoffenheit der Tormannhoffnung Gabriel Kuhn waren letztlich mit dem System Profifußball, wie er in Kufstein praktiziert wurde, nicht vereinbar. Mit 18 brach er noch am ersten Sommerferientag zu einer Urlaubsreise auf, bei seiner Rückkehr zwei Wochen später entzog ihm sein verärgerter Trainer das eben gewonnene Stammleiberl, weil er durch die Reise mehrere Trainings versäumt hatte. Es folgte eine Saison ohne Motivation und am Ende die Einsicht, dass Studium und Fernweh nicht mit der Profikarriere vereinbar sind.

Er habe in seinem ganzen Leben nie wieder so viel Unehrlichkeit, falsches Spiel und Verantwortungslosigkeit erlebt wie im Profifußball, sagt Kuhn heute. Niemand von den Trainern, Managern und Sponsoren sei je ehrlich gewesen: «Dir wurde der Himmel versprochen, um dich beim Verein zu halten – fixes Leiberl, Geld, grandiose Zukunftsaussichten, der Konkurrent wird verkauft – und sobald du unterschrieben hast, war wieder alles anders.»

Ein anderer Fußball ist möglich

Dennoch hat Kuhn der Fußball nie losgelassen. Er bekennt sich zu seiner Bewunderung für das unberechenbare schwedische Stürmergenie Zlatan Ibrahimovic aus dem Malmöer Problemvorort Rosengard und zu seiner Freude über Niederlagen von Bayern München und dem deutschen Nationalteam. 2011 gab er das Buch «Soccer vs. the State» heraus, das einen Überblick über alternative Fußballkulturen von den Fanklubs des FC St. Pauli bis zur «Einführung in den Dreiseitenfußball» einer gewissen Association of Autonomous Astronauts (East London Branch) bietet. Gemäß AAA-Text sollen drei Tore und ein hexagonales Spielfeld ebenso für Verwirrung stiften wie der Schlusssatz des Texts: «Der Halbkreis um das Tor fungiert als Strafraum und es könnte erforderlich sein, ihn für irgendeine Art von Abseitsregel zu verwenden, die noch erfunden werden muss.»

Der Fotograf zwingt sich, seinen Blick vom Fernseher abzuwenden, der im Kaffeehaus inzwischen aufgedreht worden ist: «Bremen hat ein Tor geschossen». «Was ist denn das – eine Konferenzschaltung?» fragt unser Interviewpartner. Auf die Frage, ob er gern mehrere Spiele gleichzeitig anschaut, stellt er klar: «Mich interessiert das eigentlich nicht – da gehe ich lieber lesen.»