Jeht doch! Muss jehn!vorstadt

Berlin, die große Schwester von Wien – Ein Lokalaugenschein

Berlin sollte von uns Wiener_innen von Zeit zu Zeit erforscht werden. Erstens, weil Stadterforschung (von unten!) Spaß macht, und zweitens, um zu sehen, was wir von unserer großen Schwester übernehmen und was wir besser bleiben lassen sollten. Doris Kittler hat es gemacht und liefert Wort und Bild.Mai 2015, Kottbusser Tor. Während ich auf die U-Bahn warte, wird neben mir plötzlich ein Kübel Wasser ausgeschüttet. Glück gehabt, meine Beine sind nicht pitschnass, bloß hübsch gesprenkelt. Als der Putzmann wild um meine Füße herum wischt, hebe ich diese mit einem zaghaften: «Geht’s eh?» – «Jeht doch! Muss jehn!», dröhnt es schallend entgegen. Wiener Mädl meets Berliner Schnauze. Ich steige in die bummvolle U-Bahn und bekomme zum zweiten Mal an diesem Tag einen spannenden, sehr professionell gehaltenen Vortrag eines «Motz»-Schreibers: Einige Minuten lang wird über Geschichte, Inhalte, Philosophie und Geschäftsmodell der Berliner Straßenzeitung erzählt. Als ich ihm ein Exemplar abkaufe, erwähne ich den Augustin, woraufhin er mit Zahlen, Fakten und Statistiken sämtlicher Straßenzeitungen Europas auffährt, darunter auch das 20-jährige Bestehen des Augustin, von dem er selbstverständlich auch weiß («Die Motz feiert auch heuer, wir waren aber einige Monate früher dran!»). Später erfahre ich, dass die Verkäufer_innen für ihre Arbeit in der U-Bahn und in den Stationen nicht selten wegen Hausfriedensbruchs belangt werden und fette Strafen verordnet kriegen. Beim Ausstieg in der Neuköllner Karl-Marx-Straße sticht die Fassade eines alten Gebäudes ins Auge: «Musik Bading – Telefunken – Grammophon – Radio», ein Relikt aus dem beginnenden 20. Jahrhundert. Das Musik-Spezialgeschäft gibt es tatsächlich schon seit 1919, und es ist offensichtlich noch von der Gentrifizierung Berlins verschont geblieben. Beim Betreten glaubt man, von einer Zeitmaschine ein paar Jahrzehnte in die Vergangenheit gebeamt worden zu sein: Schallplatten-Restbestände von Operettenpotpourris, Sitze mit Spezialkopfhörern zum Probehören, Instrumente, Noten, alles, was das Musikherz begehrt, und Papiersackerln aus den 1940er-Jahren (!). Leider muss ich erfahren, dass der charismatische Laden sein hundertjähriges Jubiläum nicht mehr erleben wird – mit über 90 hört die Betreiberin Ende des Jahres dann doch auf. Im «Moviemento»-Kino nebenan sticht uns die DVD eines Dokumentarfilmes über William S. Burroughs ins Auge. Beim Kassieren erwähnt der Mann an der Theke ganz nebenbei, dass er (aus den USA stammend) höchstpersönlich den Film gemacht habe. Berlin, ein Schwamm, der alles Schöpferische aufsaugt. An jedem Quadratmeter scheinen 27 Farbschattierungen der von überall her Gestrandeten einander zu konkurrieren. Jede Ecke ist belebt von einer Armee an Kreativitätsmaschinen, vieles wirkt wie nebenbei hingerotzt und hinterher eingerahmt, um dann eine neue Galerie daraus zu machen. Die Stadt scheint ständig zu schreien: Individualität! Kunst! Coolness! Kreativität! Fun! Infotainment! Dürüm! Graffiti! Mauerbewältigung! Party! Sprüche! Touris! Statements! Kunst! Musik! Bier! Hab ich Kunst schon erwähnt?

Die Feiern zum ersten Mai, dem Internationalen Kampftag der Arbeiter_innenklasse, erinnern ein wenig ans Donauinselfest, nur kleiner, ohne Donau und ohne Insel. Viele Bühnen, Musik, Fressbuden everywhere, gefühlte Hunderttausende Leiber, die sich durch enge Gässchen drängeln. Schließlich ist nur ein Mal im Jahr Mayday, und nüchtern bleiben können wir morgen auch noch. Also: Ran ans Bier und schnell noch auf eine der «Handy-Leitern» und ein Selfie mit der Menschenmenge für Facebook gemacht, bevor man zu betrunken dafür ist. Einmal auf die kleine Leiter klettern? Macht 50 Cent. Ist aber immer noch billiger als pissen gehen, wofür man bis zu einem Euro berappt. Da nimmt man schon lieber das Sonderangebot «1x Klo plus 1x Jägermeister um nur € 1,50» an. Na ja, immer noch besser als die sieben Männer, die ihr Geschäft auf kleinstem Raum und zur selben Zeit am Straßenrand verrichten. Auf einem Elektrokasten liegt ein Riesenhaufen leerer Bierdosen und Plastikbecher, darunter ein Poster über Arbeitslosigkeit. Gleich daneben ein Plakat, das mit grölenden Hipster-Rauschebärten für eine sogenannte «Business Punk Party»-Reklame macht. Wow, was kommt als Nächstes? Eine Hippie-Shopping-Mall? Alles schreit, alles säuft sich die Birne weg, wahrscheinlich, um sich nicht dieselbe zerbrechen zu müssen, etwa über steigende Arbeitslosigkeit, Verteuerung der Lebenserhaltungskosten und raschen Anstieg der Mieten. Systemkritik findet in vielen Initiativen statt. Etwa wird gerade ein Volksentscheid über mehr leistbaren Wohnraum gefordert. An den Hauswänden (und sicher auch in etlichen Initiativen) sieht man Sätze wie: «Reclaim the City!», «Unterm Pflaster liegt der Stand» oder «Ich als Haus würde Ihnen Widerstand empfehlen». «Kiez statt Kies». Ich wünschte mir diese Transparente und Graffiti nach Wien, Berlins kleine Schwester würde es dringend benötigen. Eine Gruppe von Liverpoolern ist extra hierher geflogen, um «abzufeiern», weil Berlin die affengeilste Partyszene Europas hat, wie sie mir versichern. Sie schleifen mich in einen Club unweit des Alex, hoch oben im 17. Stock. Schon nach einem «London Bucks»-Drink wirkt die nächtliche Aussicht von der Dachterrasse, die nur von einer Glaswand umringt ist, ausgesprochen surreal. Dazu toughe, durch Mark und Bein dringende House-Klänge vom darunterliegenden Dancefloor. Am Plafond flächendeckend Flashlights, cooles Schwarz, Metall und Beton. Da geht es im kleinen «Artliners»-Beisl schon anders zu. Hier bemüht man sich um die Kiez wie bei uns ums Grätzl. «Als Musiker verdiens’de hier zwar Scheiße, aber dafür macht die Arbeit Spaß, und ich kann dabei kreativ sein», so der Betreiber des Musik-Auftrittsortes für unbekannte Talente.

Um drei Uhr morgens komme ich zurück nach Schöneberg. Ich habe hier nachts als Frau alleine keine Angst. Meine Gastgeberin versichert mir, dass die vielen Männer, die sich auch nachts viel auf der Straße aufhalten (dieser Stadtteil ist in ganz Europa als Ort bekannt, der von der Homosexuellen-Community besonders geschätzt und frequentiert wird), unsere besten Beschützer sind.

Zum «Abhängen und Chillen» gibt es für den nächsten Tag des Hangovers das sogenannte Tempelhofer Feld aka Tempelhofer Freiheit. Bis zum 18. Jahrhundert als Ackerfläche von Bauern benutzt, wurde es ab 1870 zum militärischen, später zum Sportgelände. Später wurde auch ein Straflager, ein Rüstungsbauplatz, ein Zwangsarbeiterlager und ein Flughafen daraus. Als dieser 2008 stillgelegt wurde, kämpfte eine Bürger_inneninitiative dafür, dass das riesige Grüngebiet künftig der Erholung dienen soll, und verhinderte damit die drohende Verbauung mit etlichen Hochhäusern. Die Leute hatten und haben tatsächlich Erfolg, und das Gelände ist zu einem urbanen Biotop für Mensch, Pflanzen und Tiere geworden. Es wird Rad gefahren, Drachen gestiegen, gelaufen, gechillt und in einem der vielen, aus verschiedensten Materialien und Gegenständen originell zusammengeschusterten Hochbeeten gegärtnert: Vier Fensterrahmen etwa werden zu einem Gewächshaus, Schuhe zu Pflanzentöpfen, Fahrrad-Räder zu Windrädern. Der Boden selbst ist für essbare Pflanzen wegen seiner Pestizid-Verseuchung nicht zu gebrauchen. Es ist wunderschön zu sehen, wie weitläufig dieser Platz ist und wie friedvoll er genutzt wird.