NACHBAR_INNENSTADT: Verzögerungstaktikvorstadt

Wir sind alle gemeint! Wir sind alle gemein! Wie sonst sollen wir die forsche Durchsage auffassen, die uns vor allem in den Straßenbahnen fast bei jeder Fahrt einmal, oft auch mehrmals, an den Kopf geworfen wird: «Sie verzögern die Abfahrt. Bitte halten Sie den Türbereich frei.»Egal, ob sich gerade eine alte Frau mit Stock durch den Türbereich kämpft, der Kolumnist seine zwei Kinder samt Wagerl im Wagen­inneren positionieren will – oder die Tür einfach ihrem freien Bereich zum Trotz nicht schließen will. Ungeachtet auch der Meinung des Kolumnisten, dass ein bisserl Verzögerung bei ihm und seinen Zöglingen sowie bei den zuletzt Zugestiegenen zuweilen zwanglose Zufriedenheit zu zeitigen vermag.

«In Berlin sind die Öffi-Fahrer unpersönlich und unfreundlich», lautet ein zumindest zehn Jahre altes Bonmot, «in Wien hingegen persönlich und unfreundlich.» Die letzte dem Kolumnisten erinnerliche persönliche Durchsage liegt aber auch schon viele Jahre zurück. Sie lautete: «Ich freue mich, Ihnen allen einen wunderschönen Frühlingsbeginn wünschen zu dürfen.» Durchgesagt hat sie wohl der U4-Fahrer Raimund Korner, der im September 2012 in Pension gegangen ist. Seine Durchsagen hatten einen enormen Wiedererkennungswert, weil sie originell, manchmal sehr freundlich, oft maßregelnd, immer herzlich, manchmal dabei in der Tat auch persönlich und unfreundlich waren.

Ein würdiger Nachfolger ist noch nicht aufgetaucht. Das ist kein Wunder, denn dem Naturtalent Korner nachzueifern, würde wohl nur zu bemüht-halblustigen Sagern führen. Und so dominiert akustisch derzeit leider das gestrenge «Sie verzögern die Abfahrt». «Is‘ mir egal», versucht sich der Kolumnist einzureden und beginnt mit dem Nachwuchs den gleichnamigen, familienintern sehr beliebten Werbehit von Kazim Akboga zu singen. Mit Zeilen wie «Roboter mit Senf – is‘ mir egal» bewerben darin die Berliner Verkehrsbetriebe ihre Toleranz. Wir sind alle gemeint und singen gemein weiter: «Verzögerte Abfahrt – is‘ mir egal!»