In Athen werden Menschen zu Jobs gezwungen, die unsereins nur aus historischen Dokus kennt
Die Wienerin Andrea Mohak, die von 1995 bis 2006 in Griechenland lebte und kurz vor den Wahlen das Land erneut bereiste, besuchte nach ihrer Rückkehr den Augustin. Diesem konzediert sie eine journalistische Sicht auf die griechischen Verhältnisse, die nicht von den Interessen der europäischen Großbanken und den politischen Führer_innen der Reichenklubs innerhalb der EU getrübt ist.Wo bist du überall gewesen und was waren deine ersten Eindrücke nach sechs Jahren Abwesenheit?
Ich bin mit der Fähre in Igoumenitsa angekommen und nach Volos gefahren, von dort nach ein paar Tagen nach Thessaloniki. Am Ende meines Aufenthaltes stand Athen. Augenfällig war sofort, dass auf den Straßen sehr wenige Autos unterwegs sind, vor allem am Land. Von Piräus ins Zentrum von Athen habe ich es in nur zwanzig Minuten geschafft, ohne Stau. Ein Wunder und doch keines bei 1,81 Euro für 1 Liter Benzin.
In Athen selbst, was hat sich so auf den ersten Blick verändert?
Ganze Straßenzüge sind mittlerweile ohne ein einziges offenes Geschäft. Die, die geöffnet haben, sind Billigläden, 1-Euro-Shops oder chinesische Geschäfte. Viele Greißler, Installateure, Elektriker, Autozubehör-Geschäfte sperren zu, weil sie die Steuerlast nicht mehr tragen können und die Umsätze eingebrochen sind. Auch die Tavernen sind leer bis auf jene in den Nobelbezirken vielleicht. In den Stadtteilen, wo Arbeiter_innen und Angestellte leben, haben mindestens ein Drittel zugesperrt.
Und die Preise?
Ich spreche nur von den Lebensmittelpreisen, denn für etwas anderes haben die Menschen kaum mehr Geld. Die sind im Durchschnitt wie in Wien und das bei wesentlich niedrigeren Löhnen. Paradeiser z. B. kosten pro Kilo rund 3 Euro in Athen, nur am Land kann man sie direkt vom Bauern um 1 Euro kaufen. Bei den Benzinpreisen natürlich ein rein hypothetischer Gedankengang.
Im Zuge der Sparmaßnahmen kam es zu eklatanten Lohnkürzungen. Erst diesen März wurde der gesetzliche Mindestlohn auf 586 Euro brutto und für junge Arbeitnehmer_innen sogar auf 511 Euro gekürzt. Alexis Tsipras, der Parteichef der «Vereinten Sozialen Front SYRIZA» fordert in seinem Wahlprogramm die sofortige Anhebung auf den früheren Stand von 751 Euro.
Ja, und das aus gutem Grund. Ein Beispiel aus meinem Bekanntenkreis: Andreas, ein Gold- und Silberschmied in Athen wurde just an dem Tag, als alle bisherigen Tarifvereinbarungen außer Kraft traten, gekündigt. Nicht nur er, auch alle seine Kolleg_innen, 5 an der Zahl. Das war volles Kalkül, denn bereits am Tag zuvor hatte sein Chef per Inserat 6 neue Techniker gesucht. Abgesehen von solchen Widerlichkeiten frage ich dich: Wie soll man prinzipiell mit 500 Euro leben? Es gibt viele Familien, in denen der Mann der noch einzig Verdienende ist, denn Frauen sind, leider wie gewohnt, viel früher Opfer der Misere geworden. Ich nenne dir noch ein anderes Beispiel, und zwar ganz bewusst, weil in unseren Medien immer von der «egoistischen» griechischen Beamtenschaft gesprochen wird, die so wahnsinnig viel verdiene. Das ist einfach lächerlich. Thanos lebt in Athen, ist Mathematiklehrer für die Oberstufe. Bis vorigen Sommer hat er 1600 Euro brutto (!) verdient, jetzt verdient er 900 Euro. Seine Frau arbeitet im Bürgermeisteramt, Abteilung Jugendarbeit und Kultur, und ist von 1400 Euro brutto auf ebenso 900 Euro gekürzt worden wohlgemerkt für 40 Stunden. Aber es geht noch weit schlimmer. Eine Angestellte einer Tankstelle, deren Job die Kontrolle des Areals per Bildschirm und die gesamte Kassaverantwortung inkludiert, vertraute mir an, dass sie in der Stunde 3,50 Euro verdient, brutto natürlich.
Wie sieht es mit der Arbeitslosigkeit aus?
Generell liegt sie aktuell bei 23 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt über 50 Prozent, und keine Chance auf Lehre.
Ein paar Worte zum Wohnen?
Obwohl die Löhne viel geringer sind als in Österreich, ist der Mietpreis pro Quadratmeter in Athen etwa gleich hoch wie in Wien. Zwar zeigen einige Vermieter_innen mittlerweile Kulanz, viele Menschen sind dennoch gezwungen, ihre Wohnstätten aufzugeben. Wenn möglich werden sie von der Familie aufgefangen, die Mehrgenerationenfamilie erlebt in Griechenland eine neue Blüte. Ich kenne Familien, wo Eltern mit ihren Kindern in das Haus der Großeltern ziehen. Nur so ist es ihnen möglich, den meist nötigen, privaten Förderunterricht für ihre (Schul-)Kinder weiterhin zu bezahlen. Dieser beläuft sich per Monat schnell auf mehrere hundert Euro. Sie wollen die Ausbildung ihrer Kinder nicht auch noch der aufoktroyierten EU-Politik opfern. Andere ziehen in WGs zusammen oder nehmen Untermieter_innen auf und reduzieren so ihre Wohnkosten.
Es müssen unter solchen traurigen Umständen doch auch viele obdachlos geworden sein?
Ja, aber man sieht sie weitgehend nicht. Sie verstecken sich. Vor allem in den olympischen Komplexen leben viele, haben mir Bekannte berichtet. Diese Baulichkeiten stehen leer, werden nicht mehr genutzt. Dort leben auch viele Flüchtlinge: Pakistani, Afghanis, Afrikaner_innen. Es wird von einer Dunkelziffer von 3 Millionen alleine in Athen gemunkelt. Sie alle sind ohne Papiere hier und erhalten keinerlei staatliche Unterstützung. Diese Menschen schlagen sich mit Lumpen- und Metallsammeln durch. «Jobs», die bei uns längst ausgestorben sind, haben dort Hochblüte. In der Nacht kommen sie aus ihren Verstecken und sammeln in den Mistkübeln nach Verwertbarem. Erwähnen möchte ich, dass die EU Griechenland mit der Flüchtlings-Problematik ganz alleine gelassen hat. Rechte Parteien haben bei den Maiwahlen daraus Profit geschlagen. Mir ist es aber ein Anliegen zu betonen: Griech_innen sind nicht rassistischer als die Menschen in anderen Ecken Europas.
Wie schaffen es die Menschen in GL zu überleben? Was für Strategien haben sie entwickelt?
In den ländlichen Gebieten legen sich die Menschen wieder Gemüsegärten an. Sie halten Hühner, Ziegen und Schafe, um Eier, Milch und Fleisch zu haben. Viele heben ihr Erspartes von den Banken ab. Nicht nur, weil sie Angst vor der Entwertung haben, sondern auch, weil sie damit einen Acker kaufen, um ihn landwirtschaftlich zu nutzen. Leute, die noch über Besitz verfügen, etwa ein Wochenendhäuschen am Meer, versuchen dieses zu verkaufen. Da das Angebot groß ist, liegen die Verkaufspreise meist weit unter dem Schätzwert. Um der Arbeitslosigkeit zu entkommen, versuchen Leute aus gebildeteren Schichten im Ausland zu arbeiten. Es gibt eine große Auswanderungswelle nach Australien und in die skandinavischen Länder. Das hat Tradition. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es bereits auch eine dorthin. Nun versucht man Kontakte zu weitschichtigen Verwandten aufzufrischen. Schweden ist z. B. unter den Ärzt_innen sehr gefragt.
Und Menschen, die diese Chancen nicht haben?
In den Großstädten hat die Kleinkriminalität sehr zugenommen. Aber keine Banküberfälle. Die Banken sind von privaten Securitys sehr gut bewacht. Manche Menschen schlagen sich mit Betteln, Fensterputzen bei den Ampeln, wie früher, durch. Auch Jongleure sind mir aufgefallen. Die Polizei ist allgegenwärtig auf den Straßen in Athen. Das gab es früher nicht. Ich möchte mit dem schlimmen Vorurteil aufräumen, dass Griech_innen faul seien. Das stimmt ganz und gar nicht. Griech_innen haben immer überdurchschnittlich viel gearbeitet und würden es auch weiter, wenn sie könnten.
Besonders erschütternd finde ich die große Zahl an Selbstmorden.
Ja, weil die Menschen nicht mehr ein und aus wissen. An die 3000 sollen es alleine schon heuer sein. Vor allem der Sprung vom Balkon wird gewählt. Dabei möchte ich eine gezielte Falschmeldung der Medien klarstellen: Nicht die durch Spekulation bedingte Überschuldung dieser Menschen ist der Grund für das Aus ihrer Betriebe, sondern seit der Bankenkrise versiegen schlichtweg ihre Einnahmequellen.
Kommen wir auf die Kürzungen der Sozialstandards zu sprechen. Das empfinde ich besonders makaber. In Griechenland gab es ja nie diese hohen Standards wie in Österreich.
Lass mich einige Beispiele aufzählen. Medikamente gibt es nicht auf Krankenkasse außer für schwerst oder chronisch Kranke. Alle anderen müssen sie selbst kaufen. Seit 11. Juni können manche Kassen offenbar nicht einmal mehr das leisten. Bei so vielen Arbeitslosen kommen ja keine Beiträge mehr in die Kassen! Bleiben wir im medizinischen Bereich. Griechische Ärzt_innen sind sehr gut ausgebildet, aber es fehlt an Geld für technisches Equipment in den Spitälern. Auch mangelt es an Geld fürs Personal. Vor Jahren bin ich in einer Geburtsklinik gewesen, wo für einen ganzen Stock e i n e Schwester Dienst tat, und die musste sich zusätzlich um den Papierkram kümmern. Um die Patient_innen kümmern sich traditionsgemäß die Familienangehörigen.
Familienbeihilfe wie in Österreich gibt es nicht. Familien mit mehr als drei Kindern haben das Recht, sich bei einer Regierungsstelle pro Jahr 25 kg Reis, 20 kg Nudeln und 10 kg Mehl zu holen. Auch stimmt nicht, was in österreichischen Medien immer wieder kolportiert wird, dass man in Griechenland ein Jahr lang Arbeitslosengeld bekommt. Dieses gibt es in der Regel für 6 Monate, und danach ist Schluss. Eine Mindestsicherung ist in Griechenland unbekannt. Außerdem: Von 5 Wochen bezahltem Urlaub können Griech_innen nur träumen.
Mit Andrea Mohak sprach Barbara Karahan.