20 Jahre KopfwehDichter Innenteil

Ich. Du. Ich habe braune Augen und schwarze Haare. Du bist mittelgroß. Ich hatte 89 Kilo im Fitnesscenter, jetzt habe ich 100. Du gehst früh schlafen. Um neun oder zehn.

Illustration: Karl Berger

Du stehst früh auf. Um sechs oder sieben. Du wohnst mit einem Wohnungskollegen in einer 24 m²-Wohnung. Ich war seit vier Jahren nicht mehr zu Hause. Du kommst aus Kuwait. Kuwait hat nicht viel Grün. Gärtnereien machen die Stadt grün, Wüste das Land ocker. Nur wenn es regnet, kommen Blumen.

Du erzählst von Kuwait. Zuerst war Kuwait nicht rich. Dann hat Kuwait nach Öl gebohrt und wurde rich und ein office hat die Einwohner gezählt. Alle Kuwaiti haben eine ID bekommen. Ein Identitätsdokument, vergleichbar mit einem Pass. Und mit der ID Schule, Versicherung, Arbeit. Aber du bist Bidun. Die alten Bidun sind oft nach Saudi Arabien und in den Irak gegangen, wegen dem Essen für ihre Schafe und Kamele. Vor der ID waren Grenzen nicht wichtig. Dann sind auch Bidun zum office gegangen. Das office hat gesagt: «Aus welchem Land kommst du?» Mein Großvater hat gesagt: «Ich bin 50 Jahre hier. Mein Vater, mein Großvater war schon hier.» Das office hat gesagt: «Nein, du bist nicht Kuwaiti, geh nach Saudi Arabien oder in den Irak!»

Deine Familie hatte nie Papiere. Manche Bidun hatten Papiere, weil Kuwait hat Männer für die Armee gebraucht. Aber diese Papiere waren wie die Weiße Karte hier. Die Weiße Karte ist kein Identitätsdokument. Sie berechtigt lediglich zum Aufenthalt während eines laufenden Aufenthaltsverfahrens. 1985 war ein Anschlag auf den Scheich. Er ist nicht gestorben, aber viele Bidun von der Armee waren tot. Als kleiner Junge hast du das im Fernsehen gesehen. Ich war traurig. Alle waren traurig. Niemand wollte mehr eine ID. Alle wollten nur noch Essen und ruhig sein.

Nach dem Krieg wurden immer mehr Personen so, die Nase hier oben und kein Herz

1990 war Krieg. Du warst zehn Jahre alt. Mein Onkel und Vater haben clean for city gemacht, Müll sammeln für die Stadt, mit einem Auto orange wie hier. An einem Tag haben sie die irakische Armee kommen gesehen und sind gerannt. Zwei Kollegen wurden gefangen. Saddam hat Bomben auf die Ölfelder geworfen. Die Luft war schwarz. Du hast nichts mehr gesehen. Nichts. Überall Öl. Die Tiere vom Meer tot. Kuwait hat mit USA einen contract gemacht und alle Länder hatten ein meeting. 1991 war der Krieg fertig. Alle sind mit der Kuwait-Flagge auf die Straße. Wir waren glücklich. Geflüchtete Kuwaiti sind aus Saudi Arabien zurückgekommen. Sie haben gesagt: «Die Bidun haben dem Irak geholfen!» Viele Bidun wurden getötet oder sind geflüchtet. Nach England, Kanada, Australien, Saudi Arabien, Irak. Nach Österreich nicht.

Später hat der boss vom office für Bidun einen contract mit dem boss einer Insel gemacht, in Afrika, Komoren. «Gib du mir passports für deinen Staat und ich baue Häuser für dich.» Zu uns hat das office gesagt: «Du willst Papiere? Nimm dieses passport und du kriegst Versicherung, Schule für deine Kinder und Aufenthalt.» Hättest du den Pass genommen, hättest du nach fünf Jahren Kuwait verlassen müssen. Wir haben ein family meeting gemacht. Wir haben gesagt: «Das machen wir nicht.» Mein Land ist doch Kuwait! Du warst frisch verheiratet. Ein Papier fürs Heiraten haben wir nicht, nein, es war eine Hochzeit beim Imam.

Drei Wunden auf meinem Kopf

2014 haben wir eine Demonstration gemacht. Ihr hattet Fotos vom Präsidenten, vom Scheich, eine Flagge von Kuwait. Eure Kinder haben der Polizei Rosen geschenkt. Aber dann. Plötzlich. Gas, guns und Gummigeschosse. Mit dem Auto ist die Polizei über Personen gefahren. Fünf Polizisten haben einen Bidun geschlagen. Kinder und Frauen auch. Greif! Spürst du? Ja. Drei Wunden auf meinem Kopf. Drei Narben unter deinen Haaren. Die Polizei ist später nach Hause zu den Bidun. Sie hat viele Personen eingesperrt, für zehn oder zwanzig Jahre. Ohne anzuklopfen ist die Polizei in euer Haus. Sie hatte deinen Namen und ein Foto von dir. Mein Vater hat gesagt: «Ali ist nicht hier.» Du bist aufs Hausdach geklettert und gerannt.

Ein Kuwaiti hat meinem Vater ein kleines Haus gelassen. Bevor er tot war, hat er gesagt: «Diese Familie bleibt drin!» Drei Zimmer, eine Toilette, eine Küche für Bruder, Mutter, Vater, Frau, drei Kinder. Bis du geflüchtet bist, auch für dich. So groß wie Wohnzimmer und Küche bei dir.

Neben dem Haus ist ein Kindergarten, eine Schule, ein Krankenhaus. Einmal bist du mit deinem Bruder hin. Wegen meinem Zahn. Obwohl ihr nicht gehen durftet. Ein Arzt hat gesagt: «Spülung, dann ausspucken.» Ein anderer Arzt hat gesagt: «Das sind Bidun!» Der gute Arzt hat gesagt: «Das sind Kinder.» In Wien bist du mit der Weißen Karte als Erstes zum Zahnarzt. Drei Zähne hat die Zahnärztin gerissen. Eine Stunde für einen Zahn. Davor hatte ich 20 Jahre lang diesen Schmerz, 20 Jahre Kopfweh. Danach bist du nicht mehr zu einem Arzt oder einer Ärztin. Fieber oder krank, egal.

Dein Kleid ist rot

Du hast noch eine Erinnerung. Ich bin neun Jahre alt. Du spielst im Hof. Im Hof ist ein Baum und ein Zaun aus Eisen mit Spitzen. Dein Kleid ist weiß, es ist das Kleid der Kuwaiti. Ich spiele mit der Katze. Die Katze geht durch den Zaun zum Nachbarn. Du kletterst über den Zaun. Ich bleibe hängen. Dein Kleid ist rot, deine Hand ist verletzt. Unser Nachbar ruft die Rettung. Der Fahrer sagt: «Ihn nehme ich nicht mit, er ist Bidun.» Der Nachbar sagt: «Du nimmst ihn mit, mit meiner ID, und sagst den Namen meines Sohnes.» Dein Vater, dein Nachbar und sein Sohn sind ins Krankenhaus gekommen. Mit Blumen. Sie haben gesagt: «Sag nie deinen richtigen Namen!» Versehentlich hast du ihn aber gesagt. Der Arzt hat gefragt: «Was für ein Name?» Ich habe gesagt: «Ach, nein, falsch.» Zwei oder drei Monate bist du im Krankenhaus gelegen. Die Hand war sehr kaputt, dreimal aufgeschnitten und zusammengenäht. Der Arzt war Japaner, viele Krankenschwestern waren aus Indien. Das Krankenhaus heißt Mubarak Al-Kabeer Hospital. Auf Wikipedia steht: «Alle in Kuwait lebenden Nationalitäten können in dieses Krankenhaus gehen, alle Patienten sollen ihr Identitätsdokument mitbringen.»

Du hast eine weitere Erinnerung. Der Arzt sagt: «Mach Urlaub!» Ich bin eine Woche zu Hause. Bevor dein Vater dich ins Krankenhaus zurückbringt, fährt er mit dir zum Markt. Schokolade und so. Er parkt euer Auto und streift ein anderes. Nur ein touch, nur leicht, nicht viel, aber der Mann vom Auto sagt: «Gib mir deine licence!» Mein Vater sagt: «Ich habe keine, ich bin Bidun.» Der Mann sagt: «Ihr Bidun seid schlecht!» Das wirst du nie vergessen. Das werde ich nie vergessen, das weiß ich immer noch. Nach dem Krieg wurden immer mehr Personen so, die Nase hier oben und kein Herz.

Zu Ramadan seid ihr Kinder nachts auf die Straße gegangen. In Saudi Arabien hat der Islam ein Haus für Gott, Mekka. Wir haben an das Tor von den Nachbarn geklopft und gesagt: «Ich wünsche dir, dass dein Sohn nach Mekka gehen kann, bitte gib mir Schokolade!» Nach dem Ramadan hatten Kuwaiti-Kinder neue Sachen. Bidun-Kinder hatten nur Probleme, nicht neue Kleidung, nicht viel Geld, keine Schule, kein Krankenhaus. Einmal hatte deine Mutter Geld. Wir sind zum Markt gefahren. Du hast eine Polizeiuniform gesehen. Eine kleine, für Kinder. Wenn hoher Besuch zum Scheich gekommen ist, hast du die uniformierten Männer auf dem roten Teppich im Fernsehen gesehen. Die Uniform war braun, mit einem Streifen und einer Kappe. Ich habe zu meiner Mutter gesagt: «Ich brauche das!» Meine Mutter hat gesagt: «Nimm lieber was anderes.» Personen um uns haben gefragt: «Warum gibst du ihm das nicht?» Meine Mutter hat gesagt: «Das ist nicht für uns, wir haben keine ID.»

Du hattest viele Freunde als Kind, ihr habt Fußball gespielt. Oder ein Spiel mit einer Flasche, mit Sand, einem Tennisball, und wenn shoot, dann ist man tot. Du bist im Meer geschwommen. Zwei oder drei Mal, mit meinem Onkel. Er hat nicht viele Ausflüge mit mir gemacht. Er hat viel gearbeitet. Aber er hat mich sehr geliebt. Später bist du alleine gegangen. Oder mit Freunden. Du hast schwimmen gelernt. Immer ein bisschen mehr. Jetzt schwimme ich gut.

Zwei Tage, ein Dinar

Mit 13 hast du Autos gewaschen. Viele Bidun-Kinder waschen Autos. Du hattest einen Kübel, einen Schwamm, Reinigungsmittel, und Wasser von der Straße. Ich habe gesehen, da ist jemand, der hat Geld: «Brauchst du jemanden zum Waschen?» «Ja.» Große Autos, kleine. Zwei Tage, ein Dinar. Ihr wart Freunde, ihr habt zusammengearbeitet. Wenn ich müde war, habe ich zu ihm gesagt: «Kannst du? Machen wir Hälfte, Hälfte.» Mit 18 hast du auf Baustellen gearbeitet. Zusammen mit Personen aus Indien und Ägypten. Illegal – illegalisiert. Ich habe kein Papier bekommen. Du hattest nicht jeden Tag eine Arbeit. Fünf Tage oder zehn, dann musste ich wieder suchen. Arbeiten deine Kinder auch schon? Nein. Deine Kinder arbeiten noch nicht. Mein Bruder und Vater geben ihnen ein bisschen Geld.

Seit einem Jahr und neun Monaten bin ich in Österreich. Seit zehn Monaten arbeitest du in einem Tagesheim. Ich bekomme kein Geld. Du arbeitest ehrenamtlich. Ich arbeite freiwillig, wasche Kleidung und Geschirr, koche manchmal für alle. Sie mögen mein Essen. Du magst deine Kollegen, deine Kolleginnen, deinen Chef. Er sagt: «Bist du müde? Geh nach Haus.» Ich sage: «Ich arbeite!» Österreich gibt mir Papiere, Schule und Krankenhaus. Die Caritas hilft mir. Viele gute Personen sind hier. Und ich habe viel Zeit. Du sitzt nicht gern in der Wohnung. Ich will arbeiten. Du arbeitest gern. Das ist mein Geschenk für Österreich.

Nein, seit einem Jahr und zehn Monaten bin ich in Österreich. Seit einem Jahr und fünf Monaten gehst du in den Deutschkurs. Deutsch mit Rechnen. Ich gehe zum ersten Mal im Leben in die Schule. Als Kind wärst du gern in die Schule gegangen. Ich bin vor der Schule gestanden. Es war heiß, aber ich habe die Mädchen und Jungen in der Schule gesehen. Auch deine Kinder dürfen nicht in die Schule gehen. Manchmal kommt jemand und lernt mit ihnen Schreiben und Lesen, aber nicht oft. Ich kann ein bisschen Arabisch lesen. Das hast du mit 18 von einem Ägypter gelernt. Arabisch schreiben kann ich nicht, aber ein bisschen Englisch. Das hast du mit neun von einem Kuwaiti gelernt.

Zuerst das Alphabet

Am Anfang von Wien musste ich alles kennenlernen. Wien hat 23 Bezirke, jetzt kenne ich alle. Du bist oft spazieren gegangen. Am Anfang habe ich keine deutsche Sprache gehabt. Zuerst habe ich das Alphabet gelernt. Jetzt hast du die A1-Prüfung geschafft. Ich sage: Vielen Dank an die Schule für alles, was ich lernen darf! Ich sage: Vielen Dank an alle Personen, die mir helfen! Aber du hilfst auch viel. Ich mag helfen. Wenn wo ein Stück Tomate liegt, das aus einem Sandwich gefallen ist, nimmst du es und wirfst es weg. Niemand darf ausrutschen. Das ist das System im Islam, alle schauen: Was ist nicht gut für Personen? Als du neu warst in Wien, hast du eine Frau gesehen, die schwer an einem Karton zu tragen hatte. Ich habe gesagt: «Excuse me, do you need help?» «Do you want money?» «No, I want to help.» Du hast den Karton zum nächsten Taxi getragen. Die Frau hat gesagt: «Thank you very much!» «You’re welcome.» Und zweimal hast du Kindern vielleicht das Leben gerettet. Deine eigenen Kinder sind jetzt dreizehn, elf und acht. Wir telefonieren in der Woche ein Mal oder zwei. Sie hätten gern, dass du mit Video telefonierst. Aber das Internet macht immer cut.

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