30 Jahre Totalverweigerungtun & lassen

Seit 1992 setzt sich die Wiener Anlaufstelle Dessi für geflüchtete Deserteur:innen in Österreich ein. Sie ist heute noch immer so wichtig wie im Gründungsjahr.

TEXT: CHRISTIAN BUNKE
FOTO: JANA MADZIGON

«Wenn ich groß bin, werde ich Totalverweiger*in» steht auf einem Flyer, der zu einer ganz besonderen Geburtstagsparty einlud. Denn am 2. Juli feierte die Wiener Deserteurs- und Flüchtlingsberatung, kurz Dessi, ihr 30-jähriges Bestehen.
Totalverweigerung, das ist eine in Nationalstaaten fast durchgängig kriminalisierte Haltung und Handlungsweise. Das Wort bedeutet, sich dem Zugriff des Staates zu entziehen, ihm den Gehorsam zu verweigern, für ihn nicht die Waffe in die Hand zu nehmen und sich auch auf keinen verharmlosend als «Zivildienst» bezeichneten Ersatzdienst einzulassen, der oftmals nichts weiter ist als eine unbewaffnete Unterstützungsstruktur für Militär und Kriegsführung. Totalverweiger:innen fordern den Staat und dessen patriarchal hergeleitetes Recht, Menschen zu beherrschen, direkt heraus. Deshalb wandern sie auch ins Gefängnis, oft über Jahre, wo sie sich vielerorts Misshandlungen und anderen ähnlichen unerwünschten Aufmerksamkeiten durch Vollstreckungsbeamte ausgesetzt sehen.

Unabhängig, aktivistisch.

Die Wurzeln der Dessi liegen in der Totalverweigerung beziehungsweise in der noch ­heute bestehenden Arge Wehrdienstverweigerung und Gewaltfreiheit, ­einer Struktur, die in Österreich junge Menschen berät, die sich nicht den autoritären Strukturen des Bundesheeres unterwerfen wollen.
Es war im Jahr 1992, als aufgrund des Jugoslawienkriegs das Thema Desertion in Österreich plötzlich akut wurde. Denn ab diesem Zeitpunkt wurde Österreich Anlaufpunkt und Fluchtort für jene, die bei den nationalistisch aufgeheizten kriegerischen Konflikten am Balkan nicht mitspielen wollten, egal auf welcher Seite. «Damals entstand aus dem Umfeld der Arge heraus die Forderung nach politischem Asyl für Deserteur:innen in Österreich. Bestehender Kontakt zu antimilitaristischen Gruppen am Balkan machte es einfacher, Leute vom Balkan mit Wien zu connecten. Es war die Geburtsstunde der Dessi», erzählt ­Andra, die sich heute bei der ­Dessi engagiert. Gemeinsam mit bereits in Wien ­lebenden Deserteur:innen ­wurde alles ­organisiert, was so anfiel und notwendig war: «Wir waren ein Sozialraum. Es ging um Schlafplätze. Es gab keine Grundversorgung. Und ein Aufenthaltsrecht während des laufenden Asylverfahrens hat es damals auch nicht gegeben. Das war bei der Beratung und der Unterstützung ein weiterer Stressfaktor», so Andra.
Die Dessi wollte für Deserteur:innen Partei ergreifen, beraten und unterstützen. «Die Dessi war und ist eine unabhängige Anlaufstelle», betont Andra. «Wir nehmen nach wie vor keine Subventionen, staatlichen Gelder oder Ähnliches an. Wir organisieren ­eigene Feste, um Spenden entgegenzunehmen. Dazu stehen wir, und wir begründen das auch immer wieder gerne.»
Bei der Dessi arbeiten ausschließlich freiwillige Engagierte, derzeit bilden 25 «Dessis», so bezeichnen sie sich selbst, das Team. Zur Einführung mussten alle ein Pflichtpraktikum absolvieren. Die Dessi ist basisdemokratisch organisiert, regelmäßige Treffen finden wöchentlich statt.

Unbeugsam für Bewegungsfreiheit.

Die Dessi besteht aus unabhängigen politischen Aktivist:innen. Solche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut in einem Themenbereich wie der Flüchtlingsberatung für Deserteur:innen. Im Vergleich zu 1992 sei das österreichische Fremdenrecht extrem komplex geworden, betont Muriel, die ebenfalls bei der Dessi aktiv ist.
Auch die Kriege selbst hätten sich ­geändert. Es gebe eben nicht «nur» zwischenstaatliche Kriege wie jenen zwischen Russland und der Ukraine (auch wenn hier nie formell der Krieg erklärt wurde), sondern auch Bürgerkriege wie in Syrien – mit dem syrischen Staat als Generalmobilmacher, ohne seinen Einwohner:innen das Recht auf Verweigerung einzuräumen – oder Länder wie Somalia. «Dort führt eine Terror­miliz Zwangsrekrutierungen durch, was ebenfalls Menschen zur Flucht ­bewegt», erklärt Muriel.
Diese komplexe Situation trifft auf ein staatliches System, welches Deserteur:innen nicht automatisch freundlich gesonnen ist. Im Gegen­teil sehen Staaten in ­aller Welt Deserteur:innen als Affront und als Angriff auf deren Existenz. Dieses Schicksal teilen sie mit den Totalverweiger:innen. Nicht ohne Grund gehören Deserteur:innen aus der deutschen Wehrmacht zur Zeit des zweiten Weltkrieges zu einer der letzten Personengruppen überhaupt, die vom österreichischen Staat als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurden. Erst seit 2002 ist das der Fall. Bis dahin wurden Wehrmachts-Deserteur:innen in Österreich auch postum kriminalisiert.
Menschen, die aus Kriegsgebieten nach Österreich fliehen, müssen hier ­akribisch nachweisen, warum sie in ­ihren Herkunftsländern um ihr Leben fürchten mussten. Für Deserteur:innen und Kriegsdienstverweiger:innen gilt dies noch viel stärker. «Schon die Flucht ist für viele Flüchtlinge traumatisierend», sagt Muriel. «Bei den Einvernahmen entstehen dann neue Trauma­tisierungen.» Eine wichtige Rolle spielen hier die sogenannten Länderberichte. Diese werden im Rahmen von Asylstreitfällen vor dem Bundesverwaltungsgericht von österreichischen Richter:innen bei Gutachter:innen in Auftrag gegeben, um so eine Grund­lage für ihre Entscheidungen zu schaffen. Ein Ländergutachten – über Afghanistan zum Beispiel – kann dazu führen, dass eine ganze Flüchtlingsgruppe zur Abschiebung freigegeben wird, oder nicht. Aufgrund eines solchen Gutachtens könne ein:e Richter:in zum Beispiel behaupten, es gebe doch auch inner­staatliche Fluchtalternativen. «Das war bei Afghanistan sehr lange der Fall», erzählt Muriel. «Da wurde dann nachgefragt: Warum gehst du nicht einfach in die Hauptstadt?»
Niemals aufgeben. Afghanistan ist ein Beispiel, an dem sich der Wert der Unab­hängigkeit der Dessi einmal mehr gezeigt hat. Im Jahr 2017 verfasste Karl Mahringer, ein Geschäftsmann aus Liezen, den Länderbericht über Afghanistan. Auftraggeber war das Bundesverwaltungsgericht. Auf 96 Seiten legte Mahringer dar, warum Afghanistan ein sicheres Land sei. Als Quellen dienten ihm unter anderem Abenteuerromane aus dem 19. Jahrhundert. Die Dessi engagierte einen Plagiatsjäger, der Mahringers unwissenschaftliche Arbeitsweise nachweisen konnte. 2019 wurde Mahringer deshalb aus der österreichischen Gutachterliste gestrichen. Laut der Wiener Zeitung vom 14. September 2018 wurden auf Grundlage von Mahringers «Bericht» allein im ersten Halbjahr 2018 78 afghanische ­Asylsuchende nach Afghanistan abgeschoben und 115 zur «freiwilligen» Ausreise bewegt. «Es hat zwei Jahre gedauert, bis Mahringer weg war», sagt Andra. «Aber es gibt immer noch Richter:innen, die mit ihm zusammenarbeiten.» Ein jüngeres Beispiel dafür bietet eine Meldung des ­Profil vom 20. November 2021, wonach das Bundesverwaltungsgericht ­Mahringer als «Experte für schwules Leben im Irak» herangezogen haben soll.
«Niemals aufgeben!» könnte ein Motto der Dessi sein. «Wir sind neben der Diakonie die einzige Einrichtung, die Schubhäftlinge unabhängig berät», sagt Muriel. «Wir kümmern uns um ­Fälle, die bei anderen ­Organisationen als hoffnungslose Fälle gelten. Aber ­unser Standpunkt ist, dass alle das gleiche Recht auf gute Vertretung haben, egal ob sie illegalisiert sind, egal wie gut integriert sie sind.»
In Zeiten, in denen Europa wieder einmal aufrüstet und Militarismus den Mainstream öffentlicher Debatte ­beherrscht, ist ein solcher Standpunkt wichtiger denn je. In diesem Sinne wünscht der Augustin der Dessi für die nächsten 30 Jahre alles Gute! 

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