«A Häferl»vorstadt

Lokalmatador

Norbert Karvanek tischt auf: Damit mitten im Wohlstandswien die Armen nicht verhungern.

Foto: Mario Lang

Sonntag, kurz vor Mittag. Auffallend viel Traurigkeit in der kurzen Sackgasse in Mariahilf. Und die Schlange der Wartenden, denen ihre Armut sichtbar zusetzt, wird mit jeder Minute länger. Es sind nicht die Frischrasierten, neu Eingekleideten, fein Parfümierten, die im Bürgerbezirk zum gedeckten Tisch eines nett eingerichteten Restaurants streben. Sie haben auch nicht Gusto. Sie haben Hunger.

Punkt zwölf Uhr wird das Gartentor am Ende der Sackgasse geöffnet. Und bis 44 gezählt. Die Armenausspeisung im Keller der evangelischen Kirche von Gumpendorf, besser bekannt unter ihrem Wienerischen Namen «s‘ Häferl», bietet 44 Essplätze, die im Nu von den ersten 44 Hungrigen belegt werden.

Am Sonntag steht der Häferl-Meister persönlich in der Küche. «Heute gibt’s Chili con carne mit ordentlich Erdäpfeln», ruft er nach draußen. Und: «Die Erdäpfel haben uns wieder einmal die Kollegen von der Wiener Tafel vorbeigebracht.»

Wie soll man ihn nennen? «Ich bin jedenfalls kein Sozialarbeiter, ich verstehe mich mehr als Armen-Wirt», erklärt Norbert Karvanek, der auf engstem Raum erstaunlich gut mit den Zutaten und mit den Menschen zurecht kommt. Mit einem Team von Freiwilligen tritt er im Bauch des Gotteshauses an vier Tagen der Woche an, um ein Ausrufezeichen der Nächstenliebe zu setzen.

Armen-Wirt, das klingt realistisch, plausibel. Er selbst hat ebenfalls kein Leben in Saus und Braus hinter sich: Sein Großvater arbeitete tagsüber als Installateur, und abends als Kellner im Café Adlerhof. Karvanek erzählt, während er all die Töpfe und Köpfe nicht aus den Augen lässt: «Ich bin quasi im Kaffeehaus aufgewachsen. Mein Vater hat sich gleich nach der Geburt geschlichen, meine Mutter hatte viel mit sich selbst zu tun.» Im Kinderheim in Döbling hieß es früh, dass er kein einfaches Kind sei.

Auffallend: Die Menschen bei Tisch werden wie Menschen behandelt und nicht wie Bittsteller abgespeist. «Wir servieren ihnen das Essen», erklärt der Sozialdienstleister, der hier nach einer langen Reise seine Heimat gefunden hat. Er engagiert sich nicht nur fürs Häferl, er gibt auch offen zu: «I bin a Häferl.» Und damit meint er nicht eine Tasse für Heißgetränke, sondern die dialektale Umschreibung für einen Heißsporn.

Er, der Außenseiter aus schwierigen familiären Verhältnissen, der auch in seiner Lehrzeit als Zuckerbäcker nicht glücklich wurde, der zu lange das tun musste, was andere von ihm verlangten, hatte etwas dagegen, «wenn jemand der Ansicht war, er müsse mich noch weiter runterdrücken». Ist schon so, auch in den Sackgassen von Wien finden sich immer wieder Typen, die sich einem plötzlich in den Weg stellen.

Mit 23 der Fehler seines Lebens, für den er heute noch büßt. Der Richterspruch lässt wenig Spielraum für Argumentation: Schwere Körperverletzung mit tödlichem Ausgang. Fünf Jahre Gefängnis! Und dazu ein amtlicher Stempel wie ein Kainsmal: Jede noch so harmlose Rauferei sollte nach den ersten Jahren hinter Gittern erneut den Entzug von Freiheit nach sich ziehen.

First-in, first-out. So heißt ein Prinzip in der modernen Lagerwirtschaft; so geht das auch in der modernen Armengastronomie. Wer fertig gegessen hat, steht auf, damit der nächste verköstigt werden kann. «Wir würden gerne jeden Tag für die Leute kochen, aber das geht sich finanziell nicht aus», bedauert der Herr im Häferl, während er selbst chilige Teller an den Mann und an die Frau bringt.

Er hat sich langsam ins Leben zurückgearbeitet. Und er ist dabei zum Glück auf Menschen getroffen, die einem in die Augen schauen und nicht alles, was einmal abgestempelt wurde, als gegeben hinnehmen. Der Weg vom Häferl zum Häferl ist auch ein glücklicher. Advent 2002: «Ich habe damals Christbäume verkauft. Ein Freund hat mich ins Häferl mitgenommen, mit dem Hinweis, dass der Kaffee dort billig ist.» Er kam als Gast – und wurde zum Gastgeber.

Die Unvoreingenommenheit der Evangelischen, die ihm nicht nur eine Chance gaben, sondern auch mit immer mehr Verantwortung betrauten, hat ihn beeindruckt. Und so gibt er heute am Mittagstisch von dem zurück, was er selbst empfangen hat.

Nach 14 Uhr weniger Gedränge im Untergeschoß der Gustav-Adolf-Kirche, die vom Ringstraßen-Architekten Theophil Hansen geplant wurde. Doch noch immer schneien Nachzügler herein. Essen, so lange der Vorrat reicht! Gegen 16 Uhr nimmt der letzte, der 357. Hilfesuchende an diesem Sonntag Platz. Armut: Mitten im Wohlstandswien weiterhin ein Thema.

Als Leiter vom Häferl und Küster ist Norbert Karvanek zwölf Stunden bei der Stadtdiakonie und acht Stunden bei der örtlichen Gemeinde angestellt. Dass er weit mehr arbeitet als ihm bezahlt werden kann, stört ihn nicht: «Wir sind ja keine Bank, wir sind eine Kirche.»

Später gesellt sich Athanas, der Altphilologe aus Plovdiv, der neun Sprachen spricht und an den anderen Tagen kocht, hinzu. Norbert Karvanek spricht auch von großer Dankbarkeit: «Dass ich mit diesem weisen, freundlichen Mann arbeiten darf. Menschen wie Athanas sind mein Bonus.» Und dann sagt er: «Ich habe Glück, ich habe nur mit Gleichgesinnten zu tun, und alle tun das, was sie gerne tun.»