Acht Stufen tiefertun & lassen

In den Gewölben der "Gruft" unter der Mariahilferkirche

Gruft.jpgJeder Tag, jeder Atemzug ist ein Geschenk. Das Unbarmherzigste, das es gibt, ist die Uhr: Alles was links vom Zeiger ist, kommt nie, nie wieder. Worte, die ohne weiteres dem Lebensgefühl des Barock zugeschrieben werden können, welches sich durch eine stete Ambivalenz auszeichnet. Ein Schwanken zwischen Lebensgier und Todesangst. Zwischen Streben nach Prunk und Pomp in der herrschenden Oberschicht und der erschütternden Armut in großen Teilen der Bevölkerung.

Auch die Mariahilfer Kirche im 6. Wiener Gemeindebezirk wenn auch nicht im gleichen Atemzug mit den zahlreichen barocken Prachtbauten, mit denen Wien aufwarten kann, zu nennen präsentiert die Gegensätze des barocken Zeitgeistes. Ist die Kirche, zumindest außerhalb der Messzeiten, eher spärlich besucht, drängen sich acht Stufen tiefer in der Gruft diejenigen, die vom materiellen Prunk des Gotteshauses so weit wie möglich entfernt sind. Einer von ihnen hat clever formuliert, was oben zitiert wird.

Das unterirdische Grabgewölbe, ein ehemaliger Pestfriedhof, fungiert heute als Badezimmer, Gesellschaftsraum, Schlafgemach, Esszimmer, Wertsachendepot, Waschsalon, Beisl und Rückzugsmöglichkeit. Hinter der Holztüre nach den acht Treppenstufen liegt das Badezimmer. Ein nüchterner Raum. Weiß gekachelt. Fast Fußspuren auf dem Boden. Eine Waschmaschine und ein Trockner stehen an der Wand. Auch Duschen können die Klient/innen hier. Shampoo und Rasierschaum sind kostenlos.

Auf einem mittig platzierten Stuhl sitzt ein älterer Mann. Schönheits- und Bartpflege stehen auf dem Programm. Einmal die Woche bietet eine Friseuse ihre Dienste an. Ehrenamtlich. Hygiene oder zumindest die Möglichkeit zur Betreibung von Körperpflege wird in der Gruft groß geschrieben. Die Aufwertung des äußeren Erscheinungsbildes trägt schließlich auch viel zur Wahrnehmung und Wertschätzung der eigenen Person bei. Gerade der Gang zu Ämtern und Behörden oder zum Arzt (Ohne saubere Unterwäsche gehe ich nicht in ein Krankenhaus!) wird so leichter. Montag, Mittwoch und Freitag wird daher auch Kleidung an die Klient/innen vergeben.

Reden Christen nur?


Hinter dem Badezimmer liegt ein größerer Raum. Er ist unterteilt in Aufenthaltsraum und Küche. Hier spielt sich tagsüber das gesellschaftliche Leben ab. Mit dem Kopf und den Armen auf die Tische gelegt ruhen einige. Daneben spielen andere Karten oder unterhalten sich.

Kurz vor 13 Uhr füllen sich die Räumlichkeiten. Essenszeit. Hier spiegelt sich die zunehmende Armut der Bevölkerung wider, diagnostiziert die Sozialarbeiterin. Während bei den Übernachtungen kein fester Trend festzustellen ist, nehmen immer mehr Leute das Angebot einer unentgeltlichen warmen Mahlzeit in Anspruch. Unter ihnen sind auch viele Wohnungsversorgte, denen es an finanziellen Mitteln fehlt. Sie dürfen sich jedoch nur zwischen 12 und 20 Uhr in dem Kellergewölbe aufhalten. So kann, in Betreuungsgesprächen, weiterhin auf die individuellen Bedürfnisse der eigentlichen Zielgruppe eingegangen werden. Die Gruft widmet sich vorwiegend österreichischen Obdachlosen. Ja, tatsächlich: Österreicher! Oder besser: denen, die in Österreich Sozialhilfeanspruch haben. Eine Ausgrenzung, die die beschränkte Kapazität erzwinge, so Peter.

Die Essensausgabe und die Möglichkeit, zwei Stunden der Kälte zu entfliehen, waren die Angebote, die die Gruft schon von Beginn an offerierte. Als Pater Albert Gabriel, der ehemalige Pfarrer der Mariahilferkirche und mittlerweile Rektor der Unocity-Kirche, vor 21 Jahren die Gruft aus der Taufe hob. Reden Christen nur oder handeln sie auch? Mit dieser Frage und einer 6. Klasse des Amerlinggymnasiums startete das Projekt. Als Tee- und Schmalzbrotstube. Susanne Peter war damals auch schon dabei. Als 7.-Klässlerin hat sie an dem Schulprojekt teilgenommen und später ihr soziales Engagement zum Beruf gemacht.

Bei diesem Angebot jedoch blieb es nicht. Die Gruft ist mittlerweile ein 24-Stunden-Betrieb. Sie bietet warme Mahlzeiten. Eine spartanische Übernachtungsmöglichkeit. Ebenfalls unentgeltlich. Auf kaum zentimeterdicken dicken Matten. Bei maximal 120 Menschen so viele treiben die Winternächte jene acht Stufen hinab kann es da schon recht eng werden.

Neben der Abdeckung von Grundbedürfnissen bietet die Gruft folgende Dienste an: Betreuungsgespräche, Hilfe bei der Dokumentenbeschaffung und der Abklärung finanzieller Ansprüche, Begleitung der Klient/innen zu Behördengängen … Die Gruft setzt Akzente bei der Bewusstmachung und Bewältigung von Suchtproblemen, vermittelt weiter und unterstützt bei der Suche von Unterkünften. Hin und wieder übernimmt das Gruftteam bestehend aus diplomierten Sozialarbeiter/innen, Sozialbetreuer/innen und Zivildienern auch Alimentationsklärungen. Das fällt an und für sich nicht in den Zuständigkeitsbereich.

Durch die enge Zusammenarbeit mit dem Louise-Bus, dem Betreuungsbus der Caritas, wird die medizinische Versorgung von Obdachlosen gewährleistet. Zudem ist ein TBC-Bus zur Vorsorge vierteljährlich hier im Einsatz. Um die professionelle seelische Betreuung der Kunden nimmt sich 15 Stunden die Woche ein Psychiater an.

Dem psychischen Wohl sollen auch die angebotenen Freizeitaktivitäten förderlich sein. Einmal pro Jahr machen die Sozialbetreuer mit den Wohnungslosen eine Wanderung, monatlich werden Ausflüge angeboten und von Zeit zu Zeit werden Karten- oder Schachturniere ausgetragen. Und sogar ein Fußballteam stellen die Klienten der Gruft. Die leitende Sozialarbeiterin mimt die Torfrau. Irgendwie ist die Gruft wohl auch so etwas Ähnliches wie das Zuhause. Für manche.

Alkoholverbot ist Gruft-Räson


Das Engagement der karitativen Einrichtung beschränkt sich allerdings nicht ausschließlich auf die unterirdischen Räume. Mittwochs, freitags und sonntags ist der Streetworker-Bus der Gruft im Einsatz. Von 17 bis 24 Uhr werden Plätze aufgesucht, von denen bekannt ist, dass sich Obdachlose dort aufhalten. Oft eine Fahrt zu Brennpunkten wie dem Praterstern, dem West- und dem Südbahnhof. Aber auch Anrufen wird nachgegangen. Von Vorteil ist bei der Tour, dass es eigentlich keine fixe Tour gibt. Ich weiß nie, was passiert, beim Streetwork. 40 Grad Fieber, entzündete Fußverletzungen, Maden …, schildert Susanne Peter die Einsätze, bei denen auch häufig Leute in die Gruft eingeladen und mitgenommen werden.

Die Sozialarbeiter/innen besuchen diejenigen vor Ort, die den Weg in die Gruft nicht mehr schaffen oder ihn schlichtweg aus den verschiedensten Gründen nicht gehen wollen. Leute, denen ihr Schamgefühl im Weg steht, die orientierungslos sind oder schon zu weit psychischen Krankheiten, einschließlich der Alkoholsucht, erlegen sind. Allerdings gibt es auch Landstreicher, die sich der gesellschaftlichen Ordnung, der Gruft als sozialem System nicht fügen, sich in dieses nicht einreihen wollen. Die sich auf ihre Freiheit, ihr Clochard-Dasein berufen, oder diejenigen, die die beengten Verhältnisse weniger schätzen.

Zudem wird auch in der Gruft nicht jedem Einlass gewährt. Für Menschen unter merklich hohem Alkohol- oder Drogeneinfluss bleibt die große Holztüre geschlossen. Im Gegensatz zu Einrichtungen wie der JOSI in der Josefstädter Straße wird Alkoholkonsum in der nächsten Umgebung der Gruft seitens der Obdachlosen nicht geduldet. So schenken einige Klienten Alkohol in dem Punsch und Glühweinstand der karitativen Einrichtung aus, kosten dürfen sie ihn aber nicht. Die zentrale Lage der Gruft ist mitbestimmend für diese Auflage. So sollen Konflikte mit Anwohnern und unter Alkoholeinfluss begünstigte Rangeleien zwischen den Klient/innen vermieden werden.

Zur Putzzeit ist selbst die Gruft geschlossen


Gerade jetzt ermöglicht die Gruft in Zusammenarbeit mit dem Louise-Bus fünf Klienten einen Entzugsversuch, fällt dieser auch nicht grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich. Speziell diese Entzugspatienten sollen die Gruft als Schutzraum, als Zufluchtsstätte erfahren können und hier nicht mit Alkoholkonsumenten konfrontiert werden. Noch sind im Übrigen alle fünf

erfolgreich, einer von ihnen sogar schon seit über zwei Monaten.

Wer aber glaubt, die Klientel setze sich allein aus Langzeitarbeitslosen, wenig Gebildeten oder Alkohol- und Drogenabhängigen zusammen, der irrt. Auch Akademiker, ehemalige Bank- oder Firmenchefs, ehemals Selbstständige sind nicht davor gefeit, Klient/innen der Gruft zu werden. Selbstständige seit einiger Zeit sogar vermeht, weiß Susanne Peter.

Die einleitende philosophische Betrachtung über die Zeit stammt von einem Klienten dieser Sorte. Früher war er beruflich erfolgreich und angesehen als Inhaber einer eigenen Firma. Nun verbringt der hochintelligente, jedoch psychisch schwer belastete Mann viel von seiner Zeit in dem unterirdischen Gewölbe. Status und Erfolg sind für ihn Vergangenheit. Die Gruft ist Gegenwart. Heute ist er dankbar für Gesellschaft und Wertschätzung, die ihm widerfahren.

Um halb zehn Uhr abends werden gemeinsam Stühle und Tische zur Seite gerückt. Dünne Schlafmatten werden vergeben und der Gemeinschaftsraum verwandelt sich in einen Schlafsaal. Eine halbe Stunde später: Manche haben sich schon zur Ruhe gelegt. Am Boden, unter oder auf den Tischen. Das erste Licht geht aus. Die Verfasserin verlässt die Gruft. Dabei fällt ein Türschild mit folgender Aufschrift ins Auge:

Alle privaten Dinge (Taschen, Säcke, Jacken, Decken …) müssen während der Putzzeiten mitgenommen werden. Vergessene (oder stehen gelassene) Dinge werden von den Diensthabenden entsorgt.

Spätestens hier wird klar, dass die Gruft vielleicht Schutzraum, Zufluchtsstelle, Aufenthaltsraum und viele andere Funktionen erfüllen mag, aber kein wirkliches Zuhause sein kann. Schließlich werden eineinhalb Stunden pro Tag die Bewohner zu Besuchern, die mit ihrem Hab und Gut das Wohnzimmer der Verfasserin gleich, acht Stufen hinaufsteigend verlassen müssen.

Info:

Caritas Betreuungszentrum Gruft

Barnabitengasse 14

1060 Wien

Tel.: (01) 587 87 54

Bilder von Obdachlosen aus der Gruft

Ausstellung im Café Standard, Margaretenstraße 63/Straußengasse, 1050 Wien, bis 26. Jänner. Die Werke sind auch zu kaufen. Ein Maturaabschluss-Projekt von Jelena Benkovic, Rania Elamad, Pia Linke und Bianca Weber