Über 300.000 Menschen in Österreich gelten derzeit als alkoholabhängig, der Anteil an Frauen steigt. Der Weg in den Alkoholismus ist meistens schleichend, der Weg hinaus hart. Doch es gibt Hilfe.
Irgendwann zitterte die Hand zu sehr. Sabine konnte die Amtspunze nicht mehr halten, die sie bei ihrem Beruf am Punzierungsamt für Goldschmuck verwenden musste. Für die gelernte Uhrmacherin war eine ruhige Hand unabdingbar und bis dahin kein Problem. Doch wie das Trinken von Alkohol nahmen bei ihr auch Momente zu, in denen Dinge nicht mehr funktionierten, schließlich aus dem Ruder liefen. Anfangs geschah das schleichend. Seit dem 14. Lebensjahr hatte sie getrunken, in der Disco, wo es bei ihr auch nicht mehr auffiel als bei anderen Jugendlichen. Später bei Weihnachtsfeiern oder nach der Arbeit, auch das fiel nicht aus dem Rahmen. Dann kam mit ungefähr 25 Jahren der erste Zeitpunkt, an dem sie wegen Alkoholmissbrauchs auffällig wurde.
Tiefpunkte
«Mit 30 ist mir der Führerschein entzogen worden», erinnert sich die heute 57-Jährige an das Fahren unter Alkoholeinfluss. «Da ist mir zu Bewusstsein gekommen, dass ich jemanden verletzen hätte können. Als Antwort habe ich mich zurückgezogen, bin nicht mehr in die Arbeit gefahren und wollte zu Hause einen Entzug machen.» Panikattacken gesellten sich dazu, Sabine wurde in ein Spital eingewiesen und bekam Neuroleptika gegen psychotische Symptome. «Darauf habe ich gut angesprochen und 15 Jahre lang ein normales Leben geführt, ohne Alkohol», erzählt sie. Dann starb ihr Lebensgefährte und sie fiel in ein Loch, der Rückfall in den Alkoholismus ließ nicht lange auf sich warten. Sabine verschanzte sich trinkend in ihrer Wohnung und machte dort Wirbel, bis sie delogiert wurde. Der absolute Tiefpunkt in ihrem Leben sei dies gewesen, weiß sie heute. Bei einem Flohmarktbesuch lernte sie dann ihren «Sponsor» kennen: So werden bei den Anonymen Alkoholikern Menschen genannt, die bereits erfolgreich im Genesungsprogramm vorangekommen sind und anderen beim Nüchternwerden helfen. Er nahm sie auf ein Meeting der Selbsthilfegruppe mit. Ein Glücksfall für Sabine, die seitdem nicht mehr getrunken hat. Eines ist für sie gewiss: «Alkoholiker ist man sein Leben lang.»
Kraft durch die Gruppe
Heute, rund zehn Jahre später, wartet Sabine an einem Sonntag in der Kobelgasse in Simmering vor der Türe des Pfarramtes und sperrt die schwere Türe auf, als die ersten Teilnehmenden zum offenen Meeting der Anonymen Alkoholiker (AA), dem alle Interessierten beiwohnen können, auftauchen. Wenn man möchte, findet man an jedem Wochentag über ganz Wien und Österreich verstreut so einen Standort: Für viele ein wichtiges Auffangnetz, berichtet Sabine aus eigener Erfahrung. Sie besucht zweimal wöchentlich so ein Treffen, in Simmering hat sie derzeit den Aufsperrdienst übernommen, auch kümmert sie sich um Öffentlichkeitsarbeit. Sich im Verein ehrenamtlich zu engagieren ist für sie selbstverständlich geworden. «Es wird geraten, dass man auch etwas für andere tut, wenn man im zwölften Schritt ist», beschreibt sie das Programm, auf dem das Konzept der Anonymen Alkoholiker aufbaut: vom Zugeben, dass das Leben mit Alkohol nicht mehr gemeistert werden kann, bis zu dem Versuch, die Erfahrungen weiterzugeben. Dass die Anonymen Alkoholiker einigen Regeln folgen, die dem Weg aus dem Alkoholismus Struktur geben sollen, musste sie erst lernen – beim ersten Meeting habe sie einfach drauflosgeredet. An diesem Sonntag leitet sie das Meeting an. «Hallo, mein Name ist Sabine und ich bin Alkoholikerin», startet sie, während rund um den Tisch die anderen leise werden und zuhören: Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Gruppe ist heilsam, sind sich alle hier einig. Zuvor haben sie noch Kuchenstücke verteilt, Kaffee getrunken, getratscht: ein Zusammenkommen von befreundeten Menschen. Wäre da nicht das eine Thema, das ihnen viele Jahre das Leben schwergemacht hat und seitdem ein Teil von ihrem Leben ist: die Alkoholsucht. Neben Sabine haben sich fünf weitere trockene AA in der Kobelgasse eingefunden, vier von ihnen sind Frauen etwa in Sabines Alter.
In den letzten Jahren hat der relative Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der alkoholkranken Menschen deutlich zugenommen, liest man in den Infomaterialien des Anton Proksch Institutes, der auf Suchterkrankungen spezialisierten Klinik in Wien. Dass Alkoholismus bei Frauen möglicherweise weniger gesehen (werden will) oder weniger vermutet werde, könnte im Trinkverhalten begründet sein, überlegt Anna, eine der Teilnehmer:innen. «Richtig betrunken habe ich mich in Gesellschaft nicht, das habe ich daheim erledigt», sagt sie. «Es ist noch ein größeres Tabuthema als bei Männern», meint gegenüber von ihr Ingrid. «Bei Frauen wird gleich eine Verbindung zu Willensschwäche gezogen.» Dabei kann die Erkrankung jede und jeden erwischen – nicht nur obdachlose Männer, die mit der Schnapsflasche an der Bushaltestelle liegen – gewiss auch Frauen, die mitten im Berufsleben stehen, so wie es bei Ingrid war.
Nicht auffallen
«Ich habe öffentlich nur getrunken, wenn die anderen schon betrunken waren, damit ich nicht auffalle», sagt auch sie. Die ehemalige Lehrerin ist seit 32 Jahren trocken und seitdem bei den Anonymen Alkoholikern. Die Einsicht für die Krankheit fehlte ihr auch beim medizinischen Personal. Medizin ohne alkoholische Zusatzstoffe zu bekommen sei ihr schwergemacht worden, schlechte Ratschläge hingegen wie «dann trinken sie halt einfach weniger» seien schnell gekommen. In die Schule habe sie früher Wodka in der Sporttasche mitgenommen. Erst spät habe sie erfahren, dass die Kolleg:innenschaft von ihrer Sucht wusste, aber sie nicht ansprach. Wie wertvoll und wichtig sprechen über die Erkrankung ist, habe sie im Meeting bei den Anonymen Alkoholikern erfahren. Natürlich sei ärztliche Beratung wichtig: «Wenn man wie ich fast zwei Flaschen Schnaps am Tag trinkt, dann sollte man nicht ohne ärztliche Kontrolle auf Null», wirft sie ein. Wie andere im Meeting betont sie, hätte sie weitergetrunken, würde sie heute an keinem Tisch mehr sitzen können. Auch sie hatte Glück, dass Familienangehörige sie damals zu einem Meeting gefahren haben. 24 Stunden nichts trinken, so der Grundsatz der Anonymen Alkoholiker, gelingt ihr seitdem immer wieder aufs Neue. Die Gesprächskreise geben ihr weiter Halt, gläubig sein – die Anonymen Alkoholiker haben eine spirituelle Grundlage – musste sie dafür nicht. Die AA organisieren auch Selbsthilfegruppen für Angehörige und Freund:innen; daneben gibt es andere Anlaufstellen wie das Blaue Kreuz, den grünen Kreis, das Anton Proksch Institut oder die Suchthilfe Wien. Thomas, an diesem Tag der einzige männliche Teilnehmer, berichtet von einem stationären Aufenthalt, einer Therapie bei einer Psychologin und einer Fachärztin, die er weiter aufsucht. Die Selbsthilfegruppe sei zusätzlich eine zentrale Stütze.
Sabine besucht mittlerweile auch einen Pensionist:innen-Club und hat das Malen für sich entdeckt. Die Anonymen Alkoholiker werden Teil von ihrem Leben bleiben. Dass Alkohol nicht verharmlost werden sollte, davon wissen alle am Tisch zu berichten. Der Weg in die Krankheit kann schleichend sein, zu den Treffen kämen schwer Abhängige sowie Personen, denen das tägliche Weinglas Probleme bereitet. Wie viel zu viel ist, dazu berät etwa die Initiative Österreichische Dialogwoche Alkohol, die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt Richtlinien. Selbsttests mit Fragebögen findet man dort oder auch bei den AA. Geschätzte 340.000 Menschen in Österreich gelten derzeit als alkoholabhängig, nahezu jeder vierte Erwachsene konsumiert Alkohol in einem gesundheitsgefährdenden Ausmaß, so Zahlen des Anton Proksch Institutes. Darüber reden und einander unterstützen kann ein erster Schritt sein, denn Alkoholismus ist eine einsame Krankheit. Für Sabine ist es ein Lebensprogramm: «Man lernt nie aus.»
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Eine Frau schläft in unbequemer Pose, neben ihrem Bett steht eine Weinflasche: Edvard Munch mal-te sie wehrlos, mit männlichem Blick. Dieses Bild nahm die Journalistin Eva Biringer als Ausgangspunkt, um über den steigenden Alkoholkonsum bei Frauen und ihr eigenes Trinkverhalten zu schreiben. Schonungslos erzählt und analysiert sie, wie sie selbst in die Abhängigkeit von Alkohol hineinrutschte. Dass es nicht nur die Schilderung des persön-lichen Weges in und aus der Sucht ist, sondern ihre Geschichte auch für den Umgang mit Alkoholismus bei Frauen allgemein sensibilisiert, ist vielen Quer-verweisen zu verdanken. Biringer untermauert das Geschriebene mit feministischer Literatur, Artikeln und weiteren Quellenangaben – wertvoll für diejenigen, die tiefer in das Thema eintauchen wollen. Aber auch ohne weitere Recherche trägt das Buch zum Verstehen bei, dass Alkohol mitten in der Gesellschaft zum Problem werden kann. Und es macht Mut zum Alkoholverzicht: Beim Bett der Autorin steht mittlerweile Wasser statt Wein.
Eva Biringer: Unabhängig – Vom Trinken und Loslassen
Harper Collins 2022
352 Seiten, 18 Euro