Kein altes Eisen – ein Gespräch mit Bini Adamczak
Im vergangenen Mai jährte sich Karl Marx’ Geburtstag zum 200. Mal. Über die Aktualität seines Denkens, die Rückkehr des Faschismus und darüber, warum Marx weniger Einfluss auf Stalin hatte als umgekehrt, hat sich Alexander Behr mit
Bini Adamczak unterhalten.
Foto: Chris Grodotzki jib collective
Welche Relevanz hat Karl Marx 200 Jahre nach seinem Tod?
Marx – und der Zusammenhang, dem er entstammt – haben uns eine präzise und radikale Analyse des Kapitalismus geschenkt. So lange wir im Kapitalismus leben, bleibt diese Analyse aktuell. Die Theorien von Marx werden also erst dann zu den alten Eisen zählen können, wenn auch der Kapitalismus auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt ist.
Du hast dich besonders intensiv mit Geschlechterverhältnissen in unserer Gesellschaft auseinandergesetzt. Inwieweit ist Marx für diese Analyse hilfreich? Wo sind seine Schwachstellen?
Eine zentrale kapitalistische Ideologie lautet: «So, wie es ist, war es immer, so wird es immer sein.» Schon die Jägerinnen und Sammler sollen Felle und Beeren gegeneinander ausgetauscht haben, schon in den Steinzeithöhlen sollen manche Kinder die Farbe Rosa, andere die Farbe Hellblau bevorzugt haben. Der Grund hierfür wird «Natur» genannt – «da kann man halt nichts machen», heißt es. Darüber hat sich der Historiker Marx zu Recht lustig gemacht. Im Laufe der Zeit haben die Menschen mit sehr unterschiedlichen Modellen von Wirtschaft oder Geschlecht gelebt. Über den allergrößten Zeitraum der Menschheitsgeschichte hat Geld eine verschwindend kleine Rolle gespielt, und auch das Patriarchat gibt es noch nicht ewig. Weder die Unterdrückung des einen Geschlechts durch das andere noch überhaupt die Unterteilung von Menschen in Geschlechter sind natürlich. Ein offener Blick in die Geschichte zeigt: Es war nicht immer so, es muss nicht immer so bleiben.
Du giltst als prominente Kritikerin des Stalinismus. Gibt es deiner Meinung nach einen Zusammenhang zwischen den Theorien von Marx und den autoritären Ausformungen des Sozialismus?
Marx war vor allem Kritiker der kapitalistischen Herrschaft. Mit der Frage, wie eine herrschaftsfreie Gesellschaft aussehen kann, die nach dem Kapitalismus kommt, hat er sich wenig beschäftigt. Die Einwände anderer Sozialist_innen, wie etwa Bakunins, der auf mögliche Gefahren hinwies, hat Marx mit Arroganz beiseite gewischt. Damit muss er sich den Vorwurf einer gewissen intellektuellen Verantwortungslosigkeit machen lassen. Es gibt bei Marx auch autoritäre Tendenzen, vor allem in der Praxis, etwa gegenüber den anarchistischen Genoss_innen, und ebenfalls in seinen Texten. Der autoritäre Sound findet sich da vor allem in den Fußnoten, anders als bei Lenin, wo er in den Haupttext wandert. Der Stalinismus jedoch ist eine gänzliche Verkehrung des kommunistischen Versprechens. Dieses lautete immer: Nicht die Herrschaft der einen durch die Herrschaft der anderen zu ersetzen – wie bisher in der Geschichte –, sondern alle Herrschaft abzuschaffen. Es ist deswegen kein Zufall, dass viele der frühesten und radikalsten Kritiken des Stalinismus von Marxist_innen formuliert wurden. Aber die stalinistische Herrschaft lässt sich nicht mehr aus der Geschichte wegdenken. In diesem Sinne hatte Marx weniger Einfluss auf Stalin als Stalin auf Marx. Das macht die Aufgabe für die Menschen heute schwerer: Sie müssen nicht nur die Schrecken des Kapitalismus abschütteln, sondern auch verhindern, dass neue Schrecken an deren Stelle treten.
Führende Ökonom_innen gehen davon aus, dass die Krise mit dem Jahr 2008 keineswegs vorbei ist, sondern dass uns weitere schwere Erschütterungen drohen. Kann Marx uns helfen, die Krisen des Kapitalismus besser zu verstehen?
Moderne Menschen, vor allem liberale, gehen oft davon aus, dass alles so weiter geht wie bisher. Insbesondere in Phasen von Wohlstand und Wachstum glauben sie an einen steten Fortschritt zum Besseren. Umso größer ist das Erschrecken, wenn eine plötzliche ökonomische Krise diese Illusion zerreißt. Plötzlich scheint die Zeit rückwärts zu laufen und die hässlichsten Leichen der Geschichte kehren an die Oberfläche der Tagespolitik. Wir erleben die Rückkehr des Faschismus. Marx’ Analyse zeigt, dass die Krise notwendig zum Kapitalismus gehört. Die kapitalistische Ökonomie zeichnet sich durch einen unbegrenzten Zwang zum Wachstum aus, der sich nicht aufhalten lässt. Auch dann nicht, wenn sonnenklar ist, dass er die natürlichen Lebensgrundlagen des begrenzten Planeten zerstören wird. Marx kann helfen, hier klar zu sehen: Die Gefahr des Faschismus lässt sich nicht bannen und das Klima der Erde nicht retten, solange der Kapitalismus bestehen bleibt.
Bini Adamczak lebt als freie Autorin in Berlin.
Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit queeren Theorien und
Fragen von kommunistischer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Zuletzt erschienen:
Beziehungsweise Revolution: 1917, 1968 und kommende
Suhrkamp 2017
320 Seiten, 18,50 Euro