In eigener Sache: Überlegungen zu den ersten zwanzig Jahren
Mit der Ausgabe, die Sie in den Händen halten, beginnen wir unser journalistisches Flanieren durch die bisher 19 Jahrgänge des Augustin (Seite 7). Ein Rückblick aus Anlass des 20-Jahre-Augustin-Jubiläums, der uns zum Teil selber überraschte: Nach welchen Augustin-Schlagzeilen ging ein Raunen durch die Stadt? Bei welchen Inhalten mangelte es uns an langem Atem? Trieft das Elend aus seinen Seiten? Oder verbreitet es Zuversicht? Selbstreflexion ist angesagt – das gilt aber auch für das zweite «Standbein» des Jubilars, den Augustin als soziales Projekt.«Wenn Soziale Arbeit genau das macht, was die Politik von ihr verlangt, wird sie bald entbehrlich sein. Nur dann, wenn sie die Vorgaben der Politik zwar zur Kenntnis nimmt, aber unterläuft, bleibt sie nützlich. Sie funktioniert, weil sie nicht in erster Linie kontrollierend, bürokratisch und pädagogisch ist. Sie bekommt Geld, weil sie a u c h kontrollierend, bürokratisch und pädagogisch ist. Sie ist Teil des Regierens, daher kann sie weiterhin sein. Sie ist besonders wirksam, wo sie ihre Existenzbedingungen unterläuft.» So beschreibt der in der Sozialarbeiter_innen-Ausbildung tätige Peter Pantucek den berufstypischen Spagat. Kann man den Spagat verweigern? Die «Erfinder_innen» des Augustin jedenfalls wollten partout gar keine «Kontrolleure, Bürokraten und Pädagogen» sein – und deshalb auch keinen Groschen aus den Händen derer, die die Sozialarbeit zur Absicherung solcher Funktionen subventionieren.
Diese Haltung war die Voraussetzung dafür, dass Typen wie Hari Harmlos, die allergisch gegen jegliche «Betreuung» waren, ab dem Herbst des Jahres 1995 zum Augustin kamen. Als Ausrutscher eines angesehenen Baumeisters aus Trofaiach mit der Kellnerin des Stammbeisls wurde Hari vor sechs Jahrzehnten in die Welt gedrückt. In den gutbürgerlichen Verhältnissen des Vaters fand sich für den «unrühmlichen Bastard» kein Platz. Bereits als Einjähriger kam Hari zu Pflegeeltern. Dem nicht genug, galt er zusätzlich noch als staatenlos. Ein Status, der sich von der Mutter aufs Kind übertrug. Die Mutter, Luftwaffenhelferin im II. Weltkrieg, war nämlich mangels Papieren «staatenlos» aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Bis zuletzt galt Hari, der Ursteirer, als Fremder im eigenen Land. Die einzige Legitimation: sein in Braun gehaltener «Alien’s Passport». Als Teil des «Stimmgewitter Augustin» entsprach er selbstinszenatorisch dem Bastard-Bild. Als ebenso unvergesslich wie unerreicht gilt heute noch Haris Solonummer, die Wolf-Biermann-Interpretation von «Che Guevara». Der Augustinverkäufer Hari Harmlos – eine der Clochard-Legenden, die die Wiener Straßenzeitung bald zu einem Kult-Projekt machten – starb im April 2005.
Jede und jeden so zu akzeptieren, wie sie und er ist – dieses «Konzept» war außerdem die Voraussetzung dafür, dass sich heute im Vertriebsbüro «die Welt» sammelt, in der nicht nur alle Hautfarben vertreten sind, sondern auch alle Gattungen und Untergattungen von Ausgegrenzten, mit oder ohne Aufenthaltsgenehmigung.
Die Augustin-Gründer_innen kamen mit der Zeit drauf, dass sie eigene Begriffe finden mussten, um zu erklären, was die spezifische Rolle des Augustin sein könnte. Die Metapher des «Fensterrahmens» entstand. Ziel des Augustin als Sozialprojekt sei unter anderem, Berührungspunkte zwischen sozialen Milieus zu schaffen, die ansonsten wie durch eine chinesische Mauer getrennt sind und im Zuge der neoliberalen Entwicklung weiter auseinanderzudriften drohen. Der Augustin bietet sich und seine Sub-Projekte als «Fenster» an, das den Menschen hüben wie drüben den Einblick in die jeweils andere Welt gewährt: der Zivilgesellschaft in die Welt der Marginalisierten, den Outsidern in die Welt der Insider. Nur zwei Beispiele: Die Mitglieder des «Stimmgewitters» haben den professionellen Musikbetrieb kennengelernt, in den sie ohne Augustin nicht einmal schnuppern hätten können; die Wiener Mehrheitsbevölkerung kann durch Artikel und durch persönliche Kontakte mit Verkäufer_innen die Realität der Straße wahrnehmen.
Der Augustin verstand sich immer auch als eine Art Gewerkschaft der Armen. Eines ihrer Hauptanliegen: die Einführung des Nulltarifs im öffentlichen Verkehr. In exemplarischer Klarheit paart sich hier der ökologische mit dem sozialen Nutzen.
Allein im ersten Halbjahr 2014 wurden nach Angaben der Wiener Linien rund 85.000 Schwarzfahrer_innen ertappt. Damit erschöpft sich aber schon die Auskunftsfreudigkeit der Verkehrsbetriebe. Welche gesellschaftlichen Kosten verursachen die Sanktionen gegen die Ertappten, die Gefängnisaufenthalte, die Eintreibungsmaschinerie, die Razzien, die Massenverschuldung der Betroffenen?
Die Bürokratie hütet sich, solche Zahlen transparent zu machen – denn sie könnte dann ihren Krieg gegen die Armen nicht mehr legitimieren.
Der radikale Lobbyismus für die Marginalisierten, verbunden mit dem Anspruch, Bedingungen für ihre Selbstorganisation zu schaffen, zählt zu den «Alleinstellungsmerkmalen» des Augustin als Sozialprojekt. Freilich: Wer weiß das schon, außer den unermüdlichen Leser_innen? Bevor sie auf solche «Alleinstellungsmerkmale» aufmerksam gemacht werden, lernen die Leser_innen durch die Augustinlektüre, dass der Begriff aus der Wettbewerbsökonomie kommt – und also nicht sehr koscher ist. Es soll Leser_innen geben, die diese Weise, der Welt zu entrücken, sogar sympathisch finden.