Alles Gute hat etwas Lässigesvorstadt

Entdeckt am Semmering-Radweg: der Garten des Lokführers

Im obersteirischen Mürzzuschlag gab’s einen Lokführer und Schilehrer, der ein sympathischer Spinner war. Christine Ulm, seine Tochter und Künstlerin, behütet sein Lebenswerk, einen skurrilen Garten an der Südbahn. Von Robert Sommer (Text) und Victor Halb (Fotos).

In einer Welt, in der alles zur Ware wird, sogar der Mensch selbst, seine Wohnung, die Wälder um ihn und demnächst vielleicht auch das Trinkwasser, kommt vielen Menschen das Unverwertete, Unverwertbare wie eine unschuldige Insel im Meer des Konsumismus vor. Wer von den auswärtigen Biker_innen, die auf dem Semmering-Radweg entlang der Südbahnstrecke kurz vor Mürzzuschlag die Hinweistafel «Garten an der Bahn» entdecken, weiß schon, dass sich dahinter so eine Oase befindet? Nur die Einheimischen sind im Bilde. Sie wissen, dass wir im «Ulmgarten» angekommen sind. Wenn Christine Ulm, die Pächterin des mit einem unspektakulären, aber skurrilen Sammelsurium von Dingen gefüllten Grundstücks zwischen den Bahngleisen und dem Felshang zufällig vor Ort weilt, sollte sich der oder die Vorbeiradelnde nicht scheuen, sie um eine Führung zu bitten.

Die Vision eines Alpengartens.

Der «Ulmgarten» ist nicht nach ihr benannt, sondern nach ihrem Vater Walter Ulm. Sie, die in Wien und Barcelona universitär ausgebildete und immer noch zwischen beiden Städten pendelnde bildende Künstlerin, kümmert sich um das Lebenswerk des Vaters, des umtriebigsten Eisenbahners von Mürzzuschlag. 1958 hatte er begonnen, seine persönliche, phantasievolle Vision eines «Alpengartens» umzusetzen. Bis kurz vor seinem Tod im November 2014 «redigierte» und vervollkommnete er das Areal, das ihm ein befreundeter Bauer zu günstigsten Pachtbedingungen überließ. Der Gebrauchswert vieler Gegenstände erschließt sich sofort, etwa die Täfelchen im eigentlichen Alpengarten, auf denen die Namen der Kräuter stehen, oder die Hollywoodschaukel, die Walter Ulm aus dem Material eines alten Bettes zusammengeschweißt hat, oder der offene alte Eisenbahn-Güterwaggon, den er mit acht Freunden über mehrere Gleise hieven musste; in seinem zweiten Leben durfte der Waggon die Rolle eines beheizbaren Schwimmbeckens einnehmen. Christine Ulm erinnert sich, dass sie, ihre Schwester und die beiden Brüder die Beheizbarkeit oft verfluchte, denn oft fehlte dem Wasser die Idee der Erfrischung.

Kein Spielparadies.

Dass der Garten für die vier Geschwister eher eine Krux als ein Jux war, ist nachvollziehbar. «Er war nicht gerade unser Spielparadies», erinnert sich die Künstlerin. In nahezu traumatischer Weise drängt sich ein Wort auf, das die Beziehung der Ulm-Kinder zum Garten an der Bahn kennzeichnet: ZUWIHOIDN. Dies kann als einprägendster (unfreiwilliger) Beitrag der Kinder am Aufbau des Gartens genannt werden. Es gab immer etwas, dass man auf Geheiß des Vaters «zuwihoidn» musste, schmunzelt Christine. Und sei’s nur ein Brett für die Schlüsselbunde, das der Vater an die Wand nagelte.

Und es mangelte nicht an Schlüsselbünden in der Hütte des Gartens an der Bahn. Denn Walter Ulm war die verkörperte Geselligkeit und besaß die Schlüssel für viele Vereinslokale, Parteilokale, Alm- und Schihütten. Dass er seinen Beruf – seit 1950 war er Lokführer – und die vielen anderen Stränge seines Lebens unter einen Hut bringen könnte, ist seiner Tochter ein Rätsel. Woher nahm er die Zeit und die Energie, einer der aktivsten Mitglieder der lokalen SPÖ, einer der Gründer der Naturfreundebewegung in Mürzzuschlag, Mitglied der Steirischen Bergwacht und eines Fotoklubs, Organisator von Wandertouren, Schilehrer, Masseur und Aktivist des Naturheilvereins zu sein? Und nebenbei zu basteln, zu reparieren, den Garten zu gestalten, Feste für die Bevölkerung in seinem Garten zu veranstalten? «Unzählige Mürzzuschlager haben durch ihn das Schifahren gelernt. Er selber stand bis zum Alter von 85 Jahren auf dem Schi», erzählt die Tochter.

Mir fiel sofort beim Betreten des Gartens an der Bahn – Christine Ulm hatten diesen Tag zum Tag der offenen Tür erklärt, und der Schriftsteller Bodo Hell würdigte das Lebenswerk Walter Ulms mit einem neuen Text – der Spruch von Nietzsche ein: «Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.» Das wird oft zitiert, weil es ein beruhigendes Bild heraufbeschwört; aber erst in seinem textlichen Zusammenhang lässt es Assoziationen zum Lebenswerk Walter Ulms zu. Nietzsche schrieb: «Ein Werk, das den Eindruck des Gesunden machen soll, darf höchstens mit Dreiviertel der Kraft seines Urhebers hervorgebracht sein. Ist er dagegen bis an seine äußerste Grenze gegangen, so regt das Werk den Betrachtenden auf und ängstigt ihn durch seine Spannung.» Daran schließt der weltbekannte Satz mit den lässigen Kühen an. Wenn man den Erzählungen seiner Kinder folgt, kommt nie das Gefühl aus, Papa Ulm sei bis an äußerste Grenzen gegangen.

Kein Vatermuseum.

Stichwort Grenze: Walter Ulms Erbin ist drauf und dann, eine Scheidelinie zu übertreten. Während ihr Vater nie auf die Idee gekommen wäre, die Dinge, die seiner phänomenalen Alltagskreativität entsprangen, als Kunst zu definieren, erfahren immer mehr solcher Dinge aus seinem Nachlass nach der Bearbeitung durch Tochter Christine eine Metamorphose in Richtung Kunst. Christine Ulm erreicht das durch spezielle Arrangements der Gegenstände, durch künstlerische Ergänzungen und Hinzufügungen, manchmal nur durch Deplatzierungen und Ortsverlagerungen, durch Formen der Präsentation, die ihrem Vater kaum eingefallen wären. Der Garten verändert sich durch ihre Handschrift, seine «Verfälschung» ist vorprogrammiert. «Es ist nicht meine Intention, ein Vatermuseum zu machen», betont sie. In den Rang von Kunst aufgestiegen, sind die veredelten Gegenstände des Vaters plötzlich potenziell tauglich für Kunstgalerien. Sie werden zur Ware. Die Welt ist voller Dilemmata – auch das kann eine Erkenntnis sein, die im Garten an der Bahn kurz vor Mürzzuschlag zu gewinnen ist.