Wirtschaftskorrespondentin Ulrike Herrmann über Troika, Wachstum und das Hessische BIP
Wie wenden wir uns vom Kapitalismus ab? Und was hat der mit Wachstum zu tun? Wieso hängt Österreich so am Steuerhinterziehen? Clemens Staudinger befragt die Buchautorin und Wirtschaftskorrespondentin der Berliner Tageszeitung «taz», Ulrike Herrmann, zu Postwachstumsökonomie, Griechenland und der unrühmlichen Rolle von Europas Medien.
Foto: Kornelia Kugler
Eine Ihrer Thesen besagt, Kapitalismus braucht Wachstum. In einer Welt endlicher Ressourcen wird auch Wachstum endlich sein. Gleichzeitig stellen Sie fest, dass über «Postwachstumsökonomie» und den Weg dorthin wenig geforscht wird. Wollen die Entscheider_innen nichts davon wissen, oder wissen sie nicht, dass heute Strategien für morgen entwickelt werden müssen?
Es ist noch komplizierter: Es gibt viele Theorien, wie eine Postwachstumsgesellschaft aussehen könnte. Aber es fehlen Ansätze, wie man dorthin kommt. Die Diskussion läuft so: Hier ist der Kapitalismus und dort die ökologische Kreislaufwirtschaft, die auch funktionieren würde. Aber es fehlt die Brücke. Es ist sehr schwer, den Kapitalismus abzuschaffen, ohne dass ökonomisches Chaos entsteht, ohne dass Einkommen verloren geht, ohne dass Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren und keine Perspektive mehr haben. Wir wissen, dass Menschen in derartigen Situationen dazu neigen, rechtsradikal zu wählen. Man kann also nicht riskieren, jahrelanges Chaos zu produzieren, nur damit es hinterher vielleicht zu einer ökologischen Kreislaufwirtschaft kommt. So einfach ist es leider nicht.
Wachstum hat auch mit Energieverbrauch zu tun. Damit das Ziel, bis zur nächsten Jahrhundertwende eine Klimaerwärmung von «nur» 2° C zu erreichen, Realität werden kann, müssten rund drei Viertel der jetzt bekannten fossilen Energieträger unter der Erde bleiben. Derzeit passiert das Gegenteil, Fracking wird in den USA forciert, neue Quellen werden erschlossen. Ist so ein Ziel bei der derzeitigen Wirtschaftsform realistisch?
Nein! Es stimmt, der Energieverbrauch steigt ständig, und interessanterweise ist dies ein Gesetz, das bereits im 19. Jahrhundert beschrieben wurde: der «Reboundeffekt», entdeckt durch den Ökonomen William Jevons. Wenn man pro Wareneinheit Energie einspart, wird am Ende trotzdem mehr Energie verbraucht, einfach weil mehr Waren produziert werden. Das gilt auch heute: Seit 1970 ist der Energieeinsatz pro Wareneinheit um ca. 50 Prozent gesunken, man hat jedoch um 100 Prozent mehr Waren hergestellt. Das ist dann das sogenannte Wirtschaftswachstum. Was Jevons im 19. Jahrhundert beschrieben hat, ist der Kern des Kapitalismus – nämlich Effizienzsteigerung oder Produktivitätsgewinn. Beides setzt sich immer in Wachstum um. Sie können auch sagen, Wachstum und Produktivitätsgewinn sind identisch. Deshalb ist auch der Ausstieg aus dem Kapitalismus so schwierig: Denn was uns in Sachen Effizienz einfällt, wird immer dazu führen, dass das jetzige System noch besser funktioniert – und wächst.
Die Hauptaufgabe der Neoliberalen ist ja den Staat zu verteufeln, am besten abzuschaffen …
Da gibt es einen berühmten Österreicher, den Herrn Hayek. Viele dieser Ideen kommen aus Österreich. (lacht)
Also die Neoliberalen haben mit dem Staat nichts am Hut, gleichzeitig steht fest, dass staatliche Interventionen Wachstum ermöglichen, was den Neoliberalen wohl recht sein müsste. Weshalb ist dieser Widerspruch in der Medienlandschaft (fast) nicht sichtbar?
Das verstehe ich auch nicht. Um bei der Analyse zu bleiben: Staat und Kapitalismus gehören zusammen. Kapitalismus ist nur in starken Nationalstaaten entstanden und möglich. Eine der zentralen Funktionen des Staates ist, Krisen abzufedern. Der Kapitalismus unterliegt Schwankungen, staatliche Ausgaben wie Renten oder Gesundheitskosten stabilisieren die Einkommen – und damit die Gesamtwirtschaft. Auch den lückenlosen Aufbau der Infrastruktur oder die Grundlagenforschung könnte die Privatwirtschaft niemals organisieren, gleichzeitig braucht sie aber diese Leistungen. Dass dies in der bürgerlichen Presse nicht vorkommt, ist für mich auch ein Rätsel. Ich glaube, es liegt letztlich daran, dass auch die Kapitalisten den Kapitalismus nicht verstehen. Es ist ähnlich wie mit dem Geld. Die wenigsten wissen, wie Geld entsteht und warum es auch wieder vernichtet werden kann.
Griechenland ist unter anderem in seiner derzeitigen Situation, weil Steuerverweigerung und -betrug zum Alltag gehörten. Europäische Banken waren Komplizen des Geschehens. Sehen Sie eine Möglichkeit, dass die Mittäter_innen, die an den Steuerhinterziehungen mitverdient haben, zu Schadensersatz verpflichtet werden?
Wenn sich die europäische Politik einig wäre, dass Steuerhinterziehungen absolut nicht erlaubt sind, und die entsprechenden Gesetze machen würde, wäre das morgen vorbei. Aber das Problem ist, dass einzelne Länder, dazu gehören Österreich, Luxemburg, die Niederlande oder Irland, das Gefühl haben, davon zu profitieren, wenn sie die Steuereinnahmen der anderen klauen. Solange einzelne Länder glauben, sie seien besonders schlau, wird man Steuerhinterziehung nur in Teilen bekämpfen können. Ein großes Problem ist auch Großbritannien, denn Steueroasen wie die Cayman Islands sind britische Kronkolonien. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Finanzplatz London eine einzige Steueroase ist. Das könnte man morgen beenden, wenn es in Europa den Willen dazu gäbe.
Ein weiterer Griechenlandaspekt: Der deutsche Finanzminister Schäuble verweigert einen Schuldenschnitt, der Internationale Währungsfonds (IWF) befürwortet ihn. Ihre Prognose?
Meine Prognose: Der IWF wird in Griechenland nicht mehr einsteigen, es sei denn, es kommt zu einem echten Schuldenschnitt. Es gibt auch im IWF demokratische Strukturen, er ist eine UN-Organisation, und die meisten der 188 IWF-Mitgliedsländer sind ärmer als Griechenland. Sie fragen sich, warum sie sich im reichen Europa engagieren sollen. Denken sie an Haiti, Malaysien oder die Philippinen. Der Druck innerhalb des IWF ist enorm, dass man an dieser Rettungsaktion für ein europäisches Land nicht weiter teilnimmt. Deshalb muss Lagarde (Vorsitzende des IWF, Anm.) jetzt darauf bestehen, dass man die Statuten des IWF beachtet, die besagen, dass man kein Geld leihen darf, wenn die Schuldentragfähigkeit des Kreditnehmers nicht gegeben ist. Das wurde in den vergangenen fünf Jahren sehr großzügig ausgelegt. Nur weil Angela Merkel denkt, wir hätten gerne den IWF dabei, wird ihr Lagarde da nicht entgegenkommen können. Ich nehme auch an, dass Merkel dies weiß – nur die deutsche Öffentlichkeit hat es noch nicht begriffen. Der IWF wird für Griechenland auch nicht ernsthaft gebraucht. Europa ist reich genug, Griechenland selbst zu retten. Der Anteil des IWF am Gesamtobligo Griechenlands ist gering, man wollte den IWF jedoch als technische Unterstützung. Zudem ist er für die deutsche Politik eine bequeme Allianz, denn die Sparprogramme konnten als eine Vorgabe des IWF verkauft werden.
Griechenland und Europas Medien: In diesem Sommer haben wir eine umfassende Desinformationskampagne zahlreicher europäischer Medien erlebt.
Ja, da haben viele völlig versagt. Ich glaube, im neoliberalen Lager herrscht echte Panik. Griechenland ist ein beispielloser Fall. Es ist ein kleines Land mit einem Bruttoinlandsprodukt so groß wie Hessen. Und niemand glaubt ja wohl, dass Hessen die Eurozone zum Einsturz bringen könnte. Trotzdem hat es Griechenland geschafft, alle neoliberalen Selbstverständlichkeiten zum Einsturz zu bringen. Zum Beispiel den Glaubenssatz: Wenn man nur lange genug spart, wird alles wieder gut. Die Griechen haben gespart und den öffentlichen Haushalt um 30 Prozent reduziert, aber es wurde immer schlimmer. Das neoliberale Theoriegebäude wurde erschüttert, was zum Reflex führte: Die Griechen müssen schuld sein. Diese Hetze setzte ein, weil man das eigene Theoriegebäude nicht auf den Kopf stellen wollte und das Desaster so groß ist, dass irgendjemand schuld sein muss. Das ist auch der Grund, weshalb Schäuble den Grexit so unbedingt will: Es wäre die einzige Möglichkeit, das komplette Scheitern der neoliberalen Theorie zu maskieren. Man müsste nicht zugeben, dass alles Schrott war, was man bisher gemacht hat.
Die EU wurde seit Beginn als großes Friedensprojekt dargestellt. Friede durch ökonomische Sicherheit. Jetzt ist die ökonomische Sicherheit weg. Wird Krieg wieder ein Thema?
Nein, und dafür gibt es einen ganz banalen Grund: Es gibt zu wenige Kinder in Europa. Die Ethnologen haben festgestellt, dass lange Kriege nur dann geführt werden, wenn es in einer Gesellschaft viele junge Männer gibt, die als entbehrlich gelten. Das ist zwar zynisch, aber so funktionieren offenbar menschliche Gesellschaften. In Europa läuft eine ganz andere Entwicklung ab: Die Krisenländer Griechenland, Portugal, Spanien oder Irland werden zu gigantischen Altersheimen, denn die Jungen haben keine Perspektive und wandern aus. Für Europa wird sich die Frage stellen, wie man diese Altersheime finanziert, die offiziell Griechenland oder Portugal heißen.
Info:
Ulrike Herrmann, «Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen.» Piper, 10,30 Euro