«Alles Tango»vorstadt

Tanja Paar über eine neue Tanzbewegung, die sich vom Walzer abhebt

«Vergesst alles, was ihr über Tango in Tanzschulen je gelernt habt», sagt Thomas gleich zu Beginn. Die Tanzschulen sind des Teufels. Denn in ihnen wird die Irrlehre verbreitet, dass Tango eine bestimmte Schrittfolge sei. Weit gefehlt! «Tango ist gehen», erklärt Thomas, «ist die Verlagerung des Gewichtes von einem Bein auf das andere Bein». Vier Paare haben den Weg ins «Tanto Tango» im 15. Bezirk gefunden, um die Grundzüge des Tango Argentino zu erlernen.

Foto: Mario Lang

Die Gegend ist alles andere als nobel, neben der Pfandleihe wirbt blinkend eine Leuchtschrift für «Interactive Games», nur der Name des Friseurs zeigt, dass auch hier die Gentrifizierung unaufhaltsam voranschreitet: «Haarkunst». Durch die Verlängerung der U-Bahn (U3) wurde die bisher eher von Migrant_innen bewohnte Gegend hinter dem Wiener Westbahnhof auch für junge gutverdienende Familien attraktiv, der Verdrängungswettbewerb ist am Laufen. Aber noch ist der Hinterhof, den man durchquert, bevor man ins Souterrain zum Tanzstudio hinabsteigt, von Tauben gründlich verschissen. Drinnen wird es freundlicher. Alle ziehen ihre Straßenschuhe aus und die Tanzschuhe an, selbst die Anfänger_innen wissen, dass gutes Schuhwerk das Um und Auf ist – und ein Prestigeobjekt. Denn an den Aufdrucken erkennen die Insider_innen, ob die Tänzerin in Wien, Buenos Aires oder Shanghai eingekauft hat. Aber der Weg zum Expert_innentum ist steinig.

Tango ist gehen. Tango ist die Hölle. Denn die Dame weiß nie, in welche Richtung es weitergeht. Nach vorne? Nach hinten? Auf die Seite? Nur wenn der Mann exakt führt, ist die Richtung klar. Die Gewichtsverlagerung ist alles. Wehe wenn einer der beiden sich nicht entscheiden kann und hin- und herzappelt. Bei so viel Ungewissheit ist es für die meisten Anfänger_innen fast unmöglich, auch noch im Takt zu bleiben, der Schweißausbruch unvermeidlich. «Der Führende muss einen Plan haben», erklärt Thomas Mayr, der mit seiner Tanz- und Lebenspartnerin Sabine Klein «SaTho Tango» gegründet hat. Die beiden unterrichten gemeinsam, was für die Schüler_innen den Vorteil hat, dass immer beide Seiten erklärt werden, die des Führenden und die der Geführten. Das ist den beiden wichtig, da sie gezielt auch Frauen als Führende ausbilden. «Es ist für viele Frauen einfach nervig, immer zu warten, bis sie endlich einer auffordert», erzählt Sabine Klein. Denn bei den Milongas, den abendlichen Tanzveranstaltungen, herrschen recht konventionelle Sitten. Die Frauen sitzen oder stehen um die Tanzfläche, nach einem Blickwechsel fordert der Mann die Dame seiner Wahl auf. Getanzt werden in der Regel drei oder vier Stücke. Die Partnerin vor der «Cortina», dem musikalischen Vorhang vor dem nächsten Musikblock, stehen zu lassen, ist ein Akt extremer Unfreundlichkeit. Deshalb überlegen sich die Männer genau, wen sie sich da holen.

Die Kuppel der barocken Karlskirche spiegelt sich in dem großen Wasserbecken, das wie ein schwarzer Achat inmitten des Karlsplatzes liegt. In den Sommermonaten werden hier nach Einbruch der Dunkelheit Open-Air Milongas abgehalten. Die Tangoszene organisiert sich längst im Internet, die Veranstaltungen werden auf Webseiten, via Newsletter oder auf Facebook angekündigt – und etwa bei Schlechtwetter auch kurzfristig wieder abgesagt. An diesem lauen Abend haben rund 40 Tangueros und Tangueras den Weg in den Resselpark gefunden, auch die Anfänger_innen trauen sich nach monatelangem Praktizieren erstmals auf eine Milonga. Denn auf einer Milonga wird nicht geübt, da zeigt man, was man kann. Die besten Schuhe, die schönsten Kleider werden ausgeführt. Die Veranstalter haben eine große Kunststoffplane auf den Asphalt geklebt, damit der Boden rutschig ist. Die Musik kommt aus eigens mitgebrachten Lautsprechen, und die ersten Paare ziehen schon ihre Bahnen. Man zahlt eine freiwillige Spende. Es sind viele junge Menschen da, aber auch einige ältere Semester, ganz stilvoll ist der Herr mit Hut im Nadelstreif. «Die meisten sind noch drüben im Burggarten», sagt Verena Lammer, die schon länger Tango Argentino tanzt. Dort, im Zentrum der Stadt, gleich hinter der Hofburg, findet zeitgleich eine andere Milonga statt. Die Szene boomt derartig, dass immer mehr Veranstaltungen organisiert, immer mehr und immer attraktivere Orte erobert werden. Im Burggarten hinter der Nationalbibliothek wird auf weißen Mamorplatten im matten Schein von Pseudogaslaternen getanzt. Das nahe gelegene Palmenhaus vervollständigt die imposante Kulisse. Die zuständige Burghauptmannschaft toleriert die Tanzbegeisterten, so lange der Ghettoblaster nicht zu laut aufgedreht wird. Hier ist die alternative Tangoszene am Werk, bei der «Crossover Milonga» werden auch Jeans und Birkenstocksandalen gesichtet. Die Musikauswahl ist hier weniger konservativ als bei anderen Milongas, die Getränke bringt man selbst mit.

Die Szene wird größer – die Orte werden origineller

Nicht alle Veranstalter_innen freuen sich über die zunehmende Konkurrenz, die Wiener Tangoszene ist durchaus gespalten. Das kann allen Gästen, die eigens zum Tanzen nach Wien kommen, zum Glück völlig einerlei sein. Sie profitieren von immer neuen originellen Orten. Ebenfalls Open Air ist zum Beispiel eine Milonga an der Alten Donau. Das Wirtshaus «Selbstverständlich» an der Unteren Alten Donau ist eine Einrichtung der Sommerfrische, die der Wiener liebevoll Beisl nennt. Gleich gegenüber davon befindet sich das berühmte «Gänsehäufl», ein traditionsreiches Freibad, in dem auch heute noch der Freikörperkultur gefrönt wird. In diesem urigen Setting findet auf einer neu errichteten Badeplattform spätabends die besagte Milonga statt.

Für die Musik sorgt wieder der Ghettoblaster. Es ist stockfinster, und nur der liebe Vollmond sorgt dafür, dass die Tangueros und ihre Tanzpartnerinnen nicht ins Wasser fallen. Vom anderen Ufer her funkeln die Lichter der UNO-City und vom DC-Tower, Wiens höchstem Büroturm. Abgezäunt ist das hölzerne Oktagon nicht, es zählt also einmal mehr das absolute Vertrauen in den Tanzpartner und die Frage: In welche Richtung führt der nächste Schritt? Tango ist der Himmel.

Tanja Paar, 1970 in Graz geboren, ist Redakteurin der Wiener Tageszeitung «Der Standard». Für ihren Blog «Nacktscanner» wurde sie 2012 als Journalistin des Jahres ausgezeichnet. Sie tanzt gerne auf zwei Hochzeiten gleichzeitig.