Ein Comic-Projekt zur Horizonterweiterung
Weltgewandt. Geschichten von Menschen kennenlernen, die vermeintlich «Fremde» sind, und diese in Comics übersetzen – das Projekt Blickwinkel will mit dieser Methode unser aller Horizont erweitern. Martin Reiterer hat mit den Initiatorinnen über den
«Mut zur Perspektive» gesprochen.
Illustration: Projekt Blickwinkel
Wie sehen andere Menschen eigentlich das, was ich auch sehe? Was denken sie, was fühlen sie, wie nehmen sie etwas wahr? Und was haben sie schon alles erfahren oder durchgemacht? Eigentlich keine komplizierten Fragen. Und doch kommt es vor, dass eine Gesellschaft, die sich selbst als reflektiert und zivilisiert einstuft, genau daran krankt: dass sie unfähig ist, diese Fragen ernsthaft zu stellen und sich auf eine Erweiterung des eigenen Blickwinkels einzulassen.
Kathrin Kaisinger, Valerie Bruckbög und Anna Achleitner sind drei junge Frauen, die sich dieser Fragen zuletzt auf besonders herzhafte Weise angenommen haben. Sie versuchen, Antworten zu bekommen, indem sie diese Fragen an Menschen um sie herum richten. Ihr Konzept ist es, auf die Straße, auf öffentliche Plätze und in Kaffeehäuser zu gehen und mit Menschen zu reden und – vor allem – sie reden zu lassen.
Angefangen hat es im Herbst 2015, als viele geflüchtete Menschen nach Österreich gelangt waren. Auf einmal gab es da hauptsächlich Zahlen und Statistiken, was die drei irritiert hat. Ebenso wie die griffigen Begriffe, unter denen die Menschen zusammengefasst wurden. Es war von «Flüchtlingswelle» und «Flüchtlingsstrom» die Rede, von «Ansturm» und «Überrolltwerden». Die Schutzsuchenden wurden auf einmal als Bedrohung dargestellt, als Naturkatastrophe oder feindliche Aggression. Zahlreiche Politiker_innen haben in dieser Situation ein Potenzial erkannt: das Gefühl der Angst. Man kann es sich leicht zunutze machen, indem man es schürt und am Glühen hält, statt ernsthaft nach praktischen Lösungen selbstverständlich auftretender Schwierigkeiten und neuer Herausforderungen zu suchen.
Handeln.
Es war ein persönliches Unbehagen, das die drei zum Handeln bewegte. Was wissen wir eigentlich über die Menschen, die hierhergekommen sind? Was wissen wir über das Leben der Syrer_innen, über ihre frühere Situation, als sich das Land noch nicht im Bürgerkrieg befand? Und was wissen wir über den Krieg in Syrien? «Wenn man nicht wirklich Hintergrundinformationen recherchiert, hat man keine Chance zu verstehen, worum es da eigentlich geht», so Kaisinger, ausgebildete Kultur- und Sozialanthropologin. Zusammen mit zwei Freundinnen, Bruckbög, die in Barcelona ein Kunststudium absolvierte und nun als Illustratorin arbeitet, und Achleitner, die außer Sinologie auch Pädagogik studiert hatte, entwickelte sie Ideen zum Handeln. In gemeinsamer Entschlossenheit initiierte das Team das Projekt «Blickwinkel – Mut zur Perspektive», über das es nun mittels Crowdfunding ein Comicbuch herausbrachte, in dem es um die Geschichten der Menschen geht, die es kennengelernt und die ihm ihre Erlebnisse anvertraut hatten.
Darin gibt etwa der junge Syrer Said (Name geändert) Einblick in sein Leben vor dem Krieg und erzählt, wie die Checkpoints in Aleppo seinen Arbeitsalltag zunehmend erschwerten und warum er den Militärdienst verweigerte: «Ich konnte mich mit keiner Gruppe identifizieren», «Gegen wen hätte ich dann gekämpft?!», «Und für wen?!» Auch die Geschichte des jungen Musikers Aeham Ahmad aus Damaskus, der nach Deutschland floh, nachdem der IS sein Klavier angezündet hatte, ist im Buch zu finden. Weil es aufgrund des Stromausfalls in seiner Wohnung keinen hellen Raum mehr gab, ließ er sich sein Tasteninstrument auf die Straße tragen und spielte für die Nachbarn.
Doch die Erzähler_innen, um die es in den Comics geht, sind keineswegs ausschließlich Geflüchtete oder sogenannte Fremde. In der Serie «Aus dem Leben. Oder was heißt eigentlich ‹mit Migrationshintergrund›?» lassen die Autorinnen Österreicher_innen zu Wort kommen. Etwa die Schwarze Steirerin, die auf Englisch angesprochen wird, bevor sie im nächsten Moment im tiefsten Steirisch am Handy weiterredet, oder die Österreicherin mit asiatischem Aussehen, die einen rassistischen Witz aufschnappt, zu dem sich ein Passant hinreißen lässt. Karl Valentins Grunderkenntnis, dass der Fremde nur in der Fremde fremd sei, wird hier Lügen gestraft. Die Stereotype und Vorurteile, die in gut aufbereiteten kleinen Comic-Episoden enthüllt und aufgedeckt werden, sind allerdings viel weiter verbreitet, als dass sie nur von notorischen Rassist_innen bemüht würden. Und genau das macht das Unternehmen spannend: dass man eine Reihe stereotyper Fehleinschätzungen aus eigener Erfahrung kennt.
Der Comic als frisches Medium bietet dabei viele Möglichkeiten, Dinge anschaulich darzustellen und quasi im Nebenbei, unaufdringlich, auf Details aufmerksam zu machen. Die farbenfrohe Kolorierung bringt auch eine Überzeugung der Herausgeberinnen zum Ausdruck: «Die Welt ist bunt, Schwarz-Weiß hat es nie gegeben und wird es nie geben.»
Selbstverständliches hinterfragen.
Eine weitere Idee hat das Team ursprünglich als Guckkastenausstellung angelegt. Auf der Außenseite einer Box sieht man eine alltägliche Situation dargestellt – eine Familie am Mittagstisch, Jugendliche am Strand, beim Selfiemachen und Ähnliches – die viele automatisch mit eigenen Erfahrungen abgleichen und einordnen. Drückt man an der Box auf einen Knopf, so geht im Inneren für kurze Zeit ein Lämpchen an, durch das Guckloch kann man eine kleine Comicgeschichte lesen. Das Licht, das aufgeht, ist auch symbolisch zu verstehen, denn die Geschichte im Inneren soll überraschen: Die ganz selbstverständliche Situation wird plötzlich mit einer weniger bekannten oder gänzlich fremden verknüpft. Ein inszenierter Perspektivwechsel also.
Im Buch ist ebenfalls eine Serie von Comics abgedruckt, die als Guckkasten geplant waren. Die Übertragung ins Buch funktioniert nicht ganz reibungslos, es bedarf einer pädagogischen Anleitung, der man als mündige_r Leser_in nicht immer folgen will. Der zweite Teil des Buchs richtet sich unter dem Titel «Comics im Klassenzimmer» mit pädagogischem Begleitmaterial und Übungsblättern für den Unterricht dann direkt an Lehrkräfte. Der lehrmeisterliche Zeigefinger ist ihrer Absicht aber fremd. «Uns geht es nicht darum, recht zu haben», sondern um jene Erweiterung der eigenen Sicht. «Alles, was wir wahrnehmen», schreiben die Herausgeberinnen in der Einleitung der Comicsammlung, «alles, was wir erleben, was wir sehen und was wir fühlen, zeigt die Welt aus unserer Perspektive. Wenn du mir jetzt erzählst, was du sieht, und ich dir meinen Blickwinkel beschreibe, dann wissen wir schon mehr über das, was wir beobachten und verstehen einander besser.» Dazu kommt freilich noch die Bereitschaft, sich in die Lage eines anderen Menschen zu versetzen. Dann kann der Sichtwechsel zu einem sehr wirksamen Mittel gegen die diffusen Ängste werden, die sich in unserer Gesellschaft auszubreiten drohen.
Das sozial-ästhetische Projekt Blickwinkel zeugt nicht nur von einer guten Portion Eigeninitiative und Entschlossenheit, wie sie die Zivilgesellschaft bitter nötig hat. Die Idee beruht auf der ebenso einfachen wie völlig richtigen Erkenntnis, dass man eine Situation – und in diesem Fall eine Gesellschaft mit Menschen aus fremd erscheinenden Kulturkreisen – dadurch besser verstehen kann, dass man ihre Sichtweisen auf die Dinge kennenlernt, am einfachsten, indem man mit ihnen spricht und zuhört. Und eventuell auch gute Comics liest.
Anna Achleitner, Valerie Bruckbög, Kathrin Kaisinger:
Blickwinkel. Comics schaffen Mut zur Perspektive
Eigenverlag, Wien 2017
100 Seiten, 15 Euro
Alle Comics finden sich auch auf www.mutzurperspektive.at