100 Jahre Jännerstreik
Eine dreiviertel Million Menschen befand sich zwischen dem 14. und dem 22. Jänner 1918 im Streik. Für Brot und Frieden. Robert Foltin blickt zurück.
Illu: Karl Berger
Anfang 1918 verhandelten die Mittelmächte in Brest-Litowsk nach dreieinhalb Kriegsjahren mit den Bolschewiki über einen Frieden. Am 14. Jänner 1918 protestierten die Arbeiter_innen der Daimlerwerke in Wiener Neustadt gegen die Ankündigung verringerter Lebensmittelrationen. Einem spontanen Demonstrationszug schlossen sich die Beschäftigten vieler anderer Betriebe der Stadt an. Überall wurde in Versammlungen über die Forderungen diskutiert: Brot und Frieden. In Wien beteiligte sich die Floridsdorfer Lokomotivfabrik am Dienstag den 15. Jänner als Erste am Ausstand , der sich flächenbrandartig in der ganzen Stadt fortsetzte. Verbreitet wurde die Nachricht vom Streik durch Demonstrationen von einer Fabrik zur nächsten, aber auch über die persönlichen Kontakte vieler Frauen in Fabriken und Wohnumgebung.
Weitreichende Forderungen.
Die Sozialdemokratie wurde wie die Regierenden von der Bewegung überrascht. Aber sie war fähig zu reagieren. Die Wiener Partei berief für den 17. Jänner 1918 ihre Vertrauensleute zu Bezirkstreffen ein. Dort wurden die Ziele der Bewegung vereinheitlicht und auf vier Forderungen beschränkt. 1. Der Frieden von Brest-Litowsk dürfe nicht an gleich welchen territorialen Forderungen scheitern. 2. Der Verpflegungsdienst müsse reorganisiert werden. 3. Das gleiche und direkte Wahlrecht auch für Frauen auf Gemeindeebene müsse eingeführt werden. Und schließlich 4. Die Betriebe müssten entmilitarisiert werden. Noch am gleichen Nachmittag wurden diese Forderungen in Hunderten Massenversammlungen der ganzen Stadt eingebracht und diskutiert.
Allerdings fanden auch weiterreichende Forderungen auf den Versammlungen großen Zuspruch, wie etwa die nach der Beiziehung von Arbeiterdeputierten zu den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk. Darüber hinaus verlangten die Arbeiter_innen, die sich keineswegs einschränken lassen wollten, auch die Einführung des Acht-Stunden-Tags und nicht zuletzt die Freilassung Friedrich Adlers. Der Sohn des Parteigründers der Sozialdemokratie, Victor Adler, hatte im Oktober 1916 den k.k. Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh erschossen und war seither in Haft gesessen. «Die Arbeiter (…) wollten zum Kaiser gehen, um die Enthaftung des Friedrich Adler zu erwirken, weil er nach Brest-Litowsk geschickt werden müsse, um die Friedensverhandlungen zum Ende zu bringen», berichtet etwa ein Spitzel der Polizei am 22. Jänner 1918. Und weiter: «Wenn sie das nicht erreichen könnten, würden sie es mit Gewalt durchsetzen.»
Abbruch gegen Widerstände.
Am Samstag den 19. Jänner streikten rund 550.000 Arbeiter_innen in der österreichischen und 200.000 in der ungarischen Reichshälfte der Monarchie. Die sozialdemokratischen Funktionär_innen hatten sich am gleichen Tag mit den zuständigen Ministern zusammengesetzt, um diesen «ehrliche und entschiedene» Zugeständnisse in den Mund zu legen. Danach trafen sich neuerlich die Vertrauensmänner – zu diesem Zeitpunkt schon als Arbeiterrat von Wien. Nach einer bis in die frühen Morgenstunden gehenden Debatte wurde schließlich eine Resolution zur Einstellung der Streiks beschlossen.
Die Vertrauensleute mussten diese Resolution in ihre Bezirksversammlungen einbringen. Gegen den massiven Widerstand «radikaler Elemente» gelang es ihnen nicht immer, für Montag, den 21. Jänner, eine Wiederaufnahme der Arbeit durchzusetzen. Es dauerte noch weitere drei Tage bis fast überall wieder gearbeitet wurde.
Vertane Möglichkeiten.
Wären der Sturz der Monarchie und ein Ausstieg Österreich-Ungarns aus dem Kriegsgeschehen möglich gewesen? Die sozialdemokratische Geschichtsschreibung räumte nach dem Krieg ein, dass die von der Sozialdemokratie erreichten Zusagen bloß vage – «nach dem Krieg» – waren und nicht im Geringsten erfüllt wurden. Gleichzeitig hätte die Sozialdemokratie aber durch das Abbrechen der Streiks einen Einsatz der Armee verhindert. Retrospektiv liegt die Möglichkeit, den Ersten Weltkrieg entscheidend zu verkürzen, zumindest nahe. Außerhalb Wiens, in Ungarn und in Böhmen erreichten die Streiks erst in der Folgewoche ihren Höhepunkt. Ende Jänner streikten Hunderttausende im Deutschen Reich. Auch das Militär blieb nicht unberührt. Durch Streiks in der Seefestung Pola drohte erstmals auch das Übergreifen auf die Besatzungen der dort ankernden Kriegsschiffe und Anfang Februar revoltierten die Matrosen in Cattaro. Selbst Polizei und Militär wären wohl zu schwach gewesen, um einen andauernden Streik niederzuschlagen. Das legt zumindest der Umstand nahe, dass die österreichisch-ungarische Armee an der «Operation Faustschlag», dem deutschen Vormarsch gegen das revolutionäre Russland, nicht mehr teilnehmen konnte. Die Möglichkeiten standen demnach nicht allzu ungünstig. Dass sie nicht ergriffen wurden, dafür trägt die Sozialdemokratie die Verantwortung.