Der Beginn der Befreiung aus den Heimen
Mit der Kampagne «Öffnet die Heime» wurde Anfang der Siebzigerjahre ein Ende der brutalen Zustände in den Erziehungs- und Lehrlingsheimen gefordert. Kathi Hahn war als Fünfzehnjährige Teil der Gruppe Spartakus, die in gemeinsamer Organisierung mit Heimzöglingen den Boden für die Broda’sche Heimreform bereitete. Lisa Bolyos hat sie in Basel besucht, wo sie nach wie vor im Kollektiv lebt und politisch arbeitet. Dieser Tage spricht Kathi Hahn in Wien.
Foto: Lisa Bolyos
Du warst nicht einmal fünfzehn, als du zu Spartakus gestoßen bist.
Offiziell wurde Spartakus im Sommer 1970 gegründet, während eines internationalen Lehrlingslagers in Mürzzuschlag. Die Gruppe gab es aber vorher schon. Sie war als ehemalige Sektion VI aus der Kommunistischen Partei rausgegangen, weil sie in den Fraktionskämpfen innerhalb der Partei keinen Sinn gesehen hat und lieber Aktionen quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche machen wollte. Ich komme selber aus einem kommunistischen Elternhaus, insofern ist es nicht verwunderlich, dass ich da gelandet bin – ich war auf der Suche nach einer Gruppe, die dem antifaschistischen Background meiner Familie entspricht, aber nichts mit Parteidisziplin zu tun hat. So bin ich im Frühjahr 1970 dazugekommen, und im Herbst bin ich in die Spartakus-WG in der Theobaldgasse eingezogen.
Wie kamt ihr dazu, in der Lehrlingsorganisierung aktiv zu werden?
Die Lehrlingsausbildung war generell ein Thema, und es gab für uns auch einen Anlassfall in Wien: Im Zuge der 68er ist ein neuer Heimleiter in das Heim für Strafentlassene von der Caritas in der Geblergasse im 17. Bezirk gekommen. Der hat gesagt, Burschen, führen wir die Selbstverwaltung ein. Diese vierzig jungen Strafentlassenen haben es wirklich geschafft, sich gemeinsam zu organisieren: fürs Büro, für die Küche, für die Einkäufe usw. Und dann hat die Caritas gesagt, wo kommen wir denn da hin, wenn sich jeder selberverwalten will, das kommt überhaupt nicht in Frage, in drei Wochen seid ihr draußen, ihr werdet delogiert. Das war eigentlich der Vorläufer für unsere Heimkampagne, denn dann haben sich die Leute von der Sektion VI diesen Burschen angeschlossen. Die haben erst versucht, ihr Heim zu verteidigen, haben eine Pressekonferenz im Heim organisiert und sind dann gleich vors Rathaus gezogen – Camping im Rathauspark. Sechs Wochen lang hat es «spektakuläre Aktionen» gegeben, wie wir sie genannt haben – damit das Thema nicht weiter totgeschwiegen wird. Am Karfreitag das Türmerstübchen am Stephansdom besetzen, einen Hungerstreik machen und mit den Massen an Gläubigen diskutieren. Oder sich am Ostermontag in einen renovierungsbedürftigen Tigerkäfig einsperren und mit den Zoobesuchern diskutieren.
Spannend war, dass für die jugendlichen Strafentlassenen aus der Geblergasse nicht im «Erziehungs»-Heim, sondern erst in dieser Auseinandersetzung eine Resozialisierung stattgefunden hat.
Das Heim, sagst du, war das größte Druckmittel gegen Jugendliche.
Das haben wir sehr schnell mitgekriegt, nachdem wir angefangen haben, vor den Berufsschulen Flugblätter zu verteilen und Protokolle darüber aufzunehmen, was sich in der Lehrlingsausbildung und den Heimen an Missständen abspielt. «Fürsorge» war damals ein bedrohliches Wort. Du konntest gegen deinen Willen und auch gegen den Willen der Eltern ins Heim gesteckt werden. Oft hat das Familien betroffen, wo kein Vater war, unehelich geborene Kinder, alleinerziehende Mütter. Aber ebenso konnten Eltern bei der Fürsorge beantragen, dass das Kind ins Heim kommt.
Es gab eine Hierarchie der Heime, das bedeutet, wenn man von einem ganz «normalen»Heim abgehauen ist, ist man ins nächstschlimmere gekommen. Für Wien war das drohende Damoklesschwert nach dem Lehrlingsheim Leopoldstadt oder Augarten das Fürsorge-Erziehungsheim Eggenburg, das war eine geschlossene Anstalt. Dabei waren die Zustände schon in den «normalen» Erziehungsheimen wirklich arg. Alle Zöglinge haben uns erzählt, Watschen waren alltäglich, das Geld wurde zu einem Großteil einbehalten, es gab nur einmal die Woche Ausgang. Prügelstrafe war absolut üblich. Die Jugendlichen haben immer gesagt, wenn man da mal drinnen ist, kommt man auf jeden Fall als Krimineller raus, das ist das einzige, was man dort lernt.
Die nächste Bedrohung war dann für Mädchen Wiener Neudorf und für Burschen Kaiserebersdorf, da gab es zusätzlich eine «Strafgruppe» und die Erzieher waren Justizwachebeamte. Und eine Stufe drüber war noch Kirchberg. In den Anstalten war Glatze scheren an der Tagesordnung, unheimlich demütigend. Und dann gab es wirklich sadistische Methoden: Aus Kirchberg hat uns einer erzählt, dass es einmal in der Woche ein Fußballspiel gab, und die Spieler der Mannschaft, die verloren hat, haben für jedes Tor, das sie gekriegt haben, Stockhiebe bekommen. Es gab Strafen wie «Häschenhüpfen» bis man nicht mehr konnte, oder im Hof im Kreis rennen. Was für die Jugendlichen im Heim fast am schlimmsten war: Wenn man eine Gefängnisstrafe gekriegt hat, hat man gewusst, die geht von dann bis dann. Aber aus dem Heim, da bist du über Jahre nicht rausgekommen.
Was waren eure Aktionsformen?
Das internationale Sommercamp haben wir 1970 mit Gruppen aus Deutschland und der Schweiz organisiert, um Sensibilisierungsarbeit zu machen – wir haben zum Beispiel den Fall von einem Fleischerlehrling aufgegriffen, der von dem Meister mit einem Knochen niedergeschlagen worden ist. Wir haben uns vor sein Geschäft gestellt und Flugblätter verteilt: «Kauft nicht bei dem ein, weil der misshandelt seine Lehrlinge».
Später gab es in Wien einmal eine Rathaus-Enquete über die «Probleme der Heimerziehung», wo die ganzen Spezialist_innen zusammengekommen sind. Da sind von uns fünfzehn bis zwanzig Leute eingedrungen, haben sich erst alles angehört und dann gesagt, jetzt reicht’s, jetzt reden wir. Wir haben aus den Protokollen verlesen, was sich wirklich in den Heimen abspielt – und die Presse dazu eingeladen. Da hat es dann ziemlich viel Berichterstattung und zum ersten Mal eine große Öffentlichkeit gegeben.
Eine eurer Forderungen war ein selbstverwaltetes Heim.
Wir haben auch eines gegründet, mit dem Namen «Heliopolis» – das war einfach eine Altbauwohnung in der Lerchengasse, eine Wohngemeinschaft, wo dann auch Jugendliche gelebt haben. Durch unsere Proteste sind die Heimzöglinge auf uns aufmerksam geworden, und wenn sie geflüchtet sind, sind sie zu uns gekommen. Es gab eine Zeit, da haben wir in Wien zwanzig bis dreißig geflüchtete Heimzöglinge versteckt. Wir haben dazu ein Netz von Leuten aufgebaut; und haben natürlich auch ständig die Polizei bei uns gehabt, die haben sich furchtbar geärgert, dass sie die Zöglinge nicht finden. Und dann haben wir Verhandlungen gefordert: dass sie legalisiert werden und zum Beispiel in unser selbstverwaltetes Heim kommen.
Wie war die politische Stimmung?
1970 kam nach einer vierjährigen Minderheitenregierung der ÖVP die Regierung Kreisky. Durch die starke Mobilisierungskraft, die wir hatten, haben wir uns eine Verhandlungsbasis geschaffen. Und: Broda war Justizminister, da hat man eher einen Zugang gehabt. Schlussendlich haben wir mit unserer Kampagne und der vielen Öffentlichkeitsarbeit eine Grundlage geschaffen, auf der der Broda dann die Heimreform auf den Weg gebracht hat.
Wie ging eure Kampagne zu Ende?
Eine der letzten Aktionen war im Sommer 1971 in Linz-Wegscheid. Wir haben in der Nähe des dortigen Heimes ein Sommerlager gemacht und einige der Jugendlichen sind abgehaut und zu uns gekommen. Wir haben gemeinsam protestiert, und da hat es dann wirklich während vierzehn Tagen eine Zöglingsrevolte im Heim gegeben. Das haben wir gar nicht erwartet – es war wahnsinnig schwer, so etwas von innen her auf die Füße zu stellen.
1972 sind wir dann für eine Weile aus Österreich weggegangen. Es gab einen Artikel in «Die Presse», der uns unterstellt hat, ein verlängerter Arm von Baader-Meinhof zu sein. Das und andere Gründe haben uns dazu bewogen zu sagen, es ist sinnlos zu bleiben. Wir hätten nur in den Untergrund gehen könne, und das wollten wir definitiv nicht. Also sind wir zu unserer befreundeten Lehrlingsgruppe Hydra in die Schweiz gegangen und haben von da aus die Kooperativen Longo maï gegründet. Als die Heimreform umgesetzt wurde, waren wir schon weg.
Vor ein paar Jahren habe ich eine junge Frau kennengelernt, die die Heimerzieher_innenschule gemacht hat. Wir sind ins Gespräch über die Gründung von Longo maï gekommen, und als ich von Spartakus erzählt habe, hat sie große Augen gemacht: «Spartakus? Das lernen wir im Didaktikunterricht!»
Whose Story? Veranstaltungsreihe zu Kontinuitäten des Nazismus
Ausstellung über das Jugendkonzentrationslager für Mädchen und junge Frauen Uckermark, bis 14. 12. im JIFE, Praterstern 1, 1020 Wien
«Wir durften ja nicht sprechen…». Fürsorge im NS und ihr Weiterwirken bis ins Heute. Diskussion mit Kathi Hahn (Kampagne «Öffnet die Heime»), Gertrude Czipke (Historikerin) u. a.
12. 11., 19 Uhr, Frauenhetz, Untere Weißgerberstraße 41, 1030 Wien
Kontinuitäten von Diskriminierung und Ausgrenzung in Kinder- und Jugendhilfe. Workshop in zwei Teilen mit Ulrike Pahl und Shantala Herdel
13./14. 11., Planet 10, Pernerstorfergasse 12, 1100 Wien
Nur ein Wort? Über die historische und aktuelle Diskriminierung und Ausgrenzung als «asozial» Stigmatisierter. Diskussion mit Lisa Bolyos (Augustin), Ferdinand Koller (Bettellobby) u. a.
27. 11., 18 Uhr, Brunnenpassage, Yppenplatz, 1160 Wien
alle Veranstaltungen: www.uckermark-projekt.org