Als ob Gott sich schlafen legteArtistin

Marcel Odenbachs Kunst sieht sich Opfer-Täter_innen-Strukturen an

Marcel Odenbach bekam die Lebenspakete «Holocaust» und «Kolonialismus» in seiner Großfamilie hautnah mit. In der Kunsthalle stellt er seine eigenwilligen Videos und Papierarbeiten aus hunderttausend Bildchen aus – hie und da mit einem Kinderscherz versehen. Text: Kerstin Kellermann, Fotos: Lisbeth Kovačič«Die Kinder redeten nichts! Das waren alles Waisenkinder, die im Krieg in Ruanda ihre Eltern verloren hatten», sagt Marcel Odenbach kopfschüttelnd über die Protagonist_innen in seinem Filmwerk «In stillen Teichen lauern Krokodile» (2002/2004). «Ich schlug diesen traurigen Kindern vor zu schreien, denn man sagt ja, Schreien wäre eine gute Therapie, und die Kinder öffneten den Mund, und teilweise kam kein Ton aus dem Mund heraus.» Dann läuft Odenbach ohne einen Blick zurück einfach davon.

 

Keine Antwort auf Kinderfragen

Ich hatte ihm von Alain Gilbert Hitimana, dem Flüchtling aus Ruanda und langjährigen Augustin-Kolporteur erzählt, der – nachdem er der einzige Überlebende eines ruandesischen Massakers in einem Autobus war – nur noch sehr langsam und schwierig Wörter formulieren konnte. Nun sehe ich den Künstler überraschend von hinten. Wer Marcel Odenbach interviewen möchte, braucht gute Reflexe, denn der deutsche Künstler scheint die «Shpilkes» zu haben, eine Art von innerer Unruhe, nervöser Energie. Generationen-Weitergabe: davonlaufen. Dabei ist Odenbach nur auf der einen Familienseite von jüdischen Holocaust-Opfern geprägt, der andere Zweig seines Herkunfts-Stammbaumes ist auf der Täter_innenseite angesiedelt und lebte in Afrika. «In Belgisch-Kongo, einem Land, in dem Massaker passierten, lebten die. Meine Verwandten wurden Zeugen, wie die Kinder ihrer Nachbarn ermordet wurden!» Ein Vetter seiner Oma arbeitete als Pflichtverteidiger für Patrice Lumumba, dem ersten gewählten Ministerpräsidenten des freien Kongos.

Dass Odenbach eine Art von Kinder-Sichtweise zu den Themen Holocaust und Kolonialismus einnimmt, ist in seiner speziellen künstlerischen «Trauma-Bildsprache» nicht zu übersehen. Er beklagt sich noch heute, dass sowohl Opfer- als auch Täter_innenseite seine kindlichen Fragen keinesfalls beantworteten. «Ich konnte nichts wissen, und wer nichts weiß, kann schlecht Fragen stellen», meint er indigniert. Der kleine Marcel hatte aber wie viele Kinder ein starkes Gespür, dass etwas nicht stimmte. Warum lebten zum Beispiel die Großtanten nicht mehr? Warum wurden die ermordet? «Mein Urgroßvater stammte aus Konstantinopel, mein Vater aus Holland – was bedeutet es, ein Deutscher zu sein, fragte ich mich, eine Vergangenheit mitzuschleppen und übergestülpt zu bekommen?» Ein etwas dementer New Yorker Onkel denke noch heute, dass er die Schule verlassen musste, weil er so schlecht war, dabei musste er als jüdisches Kind gleich ganz Deutschland verlassen. «Meine Oma zog in den 60er Jahren aus dem Kongo nach Deutschland, die zog mich auf. Ich war ganz fasziniert von den Geschenken aus Afrika und wollte immer Entdeckungsreisender werden.»

 

Als ob die Steinmenschen lebten

Ein gelber Kinderflugdrache mit einem lächelnden Gesicht darauf schwebt quer am Himmel, er hat sich losgerissen. Eine Kinder-Fluchtlinie. «Selbst die Stunden zwischen Nacht und Morgen», tönt es zu schöner Musik. «Es ist gefährlich, im Angesicht dieses Elends», singt ein Mann. Odenbach verwendete ein Gedicht von Ingeborg Bachmann, um auf seine Weise das Holocaust-Mahnmal in Buchenwald, in der ehemaligen DDR gelegen, zu illustrieren. Folgend einer Bilderstrategie, dass ein fragmentarisches Leben nur in Fragmenten gezeigt werden kann, spürt die Kamera ganz nah den Figuren des Denkmals nach. Eine riesige Hand, ein Arm ragt herein, ein Fuß – als ob die Steinmenschen leben würden. Der Blick von unten, von innen, aus der Buchenwald-Gedenkstätte von Bertolt Brecht und Fritz Cremer heraus. In diesem Film, «Beweis zu nichts» (2017), einer speziellen Auftragsarbeit für die Wiener Kunsthalle, folgen Überblendungen der Denkmals-Darstellungen mit Menschen. Ein jüdischer Junge während der Nazizeit, der süß und verlegen in die Kamera lächelt, mit seinem Tretroller. Ein blauer Ball rollt die Stufen herunter – ein Zitat von Sergej Eisensteins Kinderwagen, wie Odenbach verschmitzt anmerkt. Etwas Lebendiges wird in diese toten Anlagen gebracht, ein fröhlicher Kinderblick – unschuldig und neugierig. «Auf dem Rücken der Flüsse. Und die ganze Winterzeit dazu. Es ist gefährlich, angesichts dieses Elends, ihr unerträgliches Leben …», klingt der Sänger in hohen Tönen. «Ich muss ja nichts beweisen!», ruft Odenbach und läuft schon wieder davon. «Ich spüre jetzt so einen wahnsinnigen Stich im Kopf!», krakeelt er und mag nicht mehr fotografiert werden.

 

Nachbilder der Toten

Bei der Eröffnung herrscht eine stille und andächtige Atmosphäre vor, die Besucher_innen sind auffällig still. Vor dem Film über drei afrikanische Männer mitten im Pariser Louvre herrscht Gedränge. «Es war gar nicht leicht, Illegalisierte aufzutreiben», meint Marcel Odenbach, der die Flüchtlinge bzw. Migranten für seinen Film «Im Schiffbruch nicht schwimmen können» (2011) nach Frankreich mitnahm. «Im TGV von Karlsruhe aus. Ganz einfach!» Zwischen all den goldenen Rahmen im Louvre dann ein trauriges schwarzes Gesicht. Ein Afrikaner mit ernster Miene. Rote Augen hat er, müde schaut er aus. Odenbach setzte ihn vor das Bild «Floß der Medusa» des Romantikers Géricault. Das Bild zeigt einen Schiffbruch. Mit typisch europäischen «Nackerten» da­rauf. Rückgriff auf die Kolonialgeschichte: England gab den Senegal an Frankreich zurück, von den entsendeten französischen Schutz-Schiffen ging eines mit Namen «Meduse» unter. Etwas seltsam erscheint der Film schon: Soll dieser afrikanische Junge nun trauern, dass ein Schiff voll Kolonialisten nicht sein Ziel erreichte? Assoziationen zu seiner eigenen Flucht mit einem Schlauchboot über das Meer erhalten? «Ich weiß, was Verdrängung und fehlende Trauer bedeuten», weist Odenbach Fragen von sich. «Ich komme auch aus einer Flüchtlingsfamilie.» Und weg ist er.

In einem abgetrennten, komplett dunklen Bereich neben dem Louvre-Film läuft das spielfilmartige Video «Im Kreise drehen» (2009) über das Mahnmal zum Holocaust im ehemaligen Konzentrationslager Majdanek bei Lublin. In diesem verwendet der Künstler noch eine andere Trauma-Bildsprache: durch die Überblendung von damals sehr lebendigen Menschen auf den runden Stahlbeton-Fries des Mahnmals entstehen «Nachbilder». Ähnlich jenen, wenn wenn man die Augen schließt und sich an jemanden erinnert. «In seiner Dunkelkammer entwickelt Gott die Bilder der Toten», beschrieb der Dichter Yehuda Amichai in seinem Gedicht über den Holocaust diese Technik.

 

Kleine Kräfte gegen die Zerstörung

Rote Steine, rote Hügel, rote Häuser: Der Film über Ruanda ist von roter Farbe getränkt. «Wenn Gott sich schlafen legt, legt er den Kopf nach Ruanda», heißt ein Filmkapitel. Blutrote Erde, roter Rock einer Frau, eine rote Kuh. Rotes Essen auf grünem Teller. Kleine Sachen fielen dem Filmemacher ins Auge. «The cowards will be punished», tönt mörderische Hetze aus einem kleinen Radio mit Antenne: «In Rwanda is no place for Tutsis.» Ein Mann erschlägt von oben herab Menschen, als ob er mit der Machete einfach nur Schilf schneiden würde. Langsam und methodisch. Stummer Schrei der Waisenkinder. Sogar das Wasser wird rostrot wie Blut, Überblendung mit Leichen. Dann sieht man die ruandesischen Waisenkinder, wie sie mit aus Holz selbstgebauten Tretrollern einen lehmigen Hügel hinabfahren. Ruhig, ohne Lachen und Schreien. Gelassen und selbstbewusst. Kleine Kinder können starke schöpferische Kräfte gegen die Zerstörung entwickeln; «alte Kinder» auch.

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