Am Anfang war der Hungertun & lassen

Als vor kaum mehr als 100 Jahren die Erste Republik gegründet wurde, war vielen Menschen nicht zum Feiern zumute. Die ersten Monate des jungen Staates waren von Massenelend, Hunger und Wohnungsnot geprägt. Von Sabine Fuchs. Illustration: Karl BergerSchon vor dem Ersten Weltkrieg waren Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion unterentwickelt. Im Jahr 1913 waren in Wien etwa 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung von Mangelernährung betroffen. Als während des Krieges viele Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft in die k. u. k. Armee eingezogen wurden, verschlechterte sich die Versorgungslage weiter. Im Jahr 1917 betrugen die Ernteerträge nur noch 25 bis 50 Prozent der Vorkriegszeit, ein Teil davon wurde noch dazu für die Armee requiriert. In Wien kam erschwerend hinzu, dass mit fortschreitender Kriegsdauer die Getreidelieferungen aus Ungarn immer häufiger ausblieben. Logische Folge des Mangels waren Preiserhöhungen. Unter ihnen hatte vor allem die Bevölkerung in den Städten und Industrieregionen zu leiden, denn sie hatte kaum eine Möglichkeit, sich selbst mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Behörden versuchten erfolglos, dem Problem mit Rationierungsmaßnahmen zu begegnen, dadurch etablierte sich jedoch ein reger Schwarzmarkt. Bei Kriegsende verschlang ein Kilogramm Butter ein durchschnittliches Monatseinkommen.

Hunger und Seuchen.

Schon im Mai 1916 kam es in Wien daher zu ersten Protesten gegen die Versorgungslage, zunächst in Favoriten, dann in Rudolfsheim und auf der Schmelz. Vor allem Kinder und Jugendliche beteiligten sich an den Hungerrevolten: Geschäfte wurden geplündert und ein Marsch aufs Rathaus wurde von Sicherheitskräften erst im letzten Moment zurückgedrängt. In den letzten beiden Kriegsjahren verschärfte sich die Krise weiter. Hungerproteste gehörten nun zum täglichen Bild in der Stadt, dazu kamen Seuchen. In den Jahren 1917 und 1918 brach zwei Mal die Ruhr aus und forderte insgesamt etwa 2.500 Tote. Im September 1918 erreichte die berüchtigte Spanische Grippe Wien. Am Höhepunkt der Epidemie im Oktober und November fielen ihr mindestens 5.000 Menschen zum Opfer. Auf das offensichtliche Versagen der Behörden in der Hungerkrise traf auch noch das arrogante Verhalten der alten Elite. So wurde etwa im November 1918 die Gräfin Marie von Coudenhove, Tochter des ehemaligen konservativen Ministerpräsidenten Eduard von Taaffe, verhaftet. Sie hatte für ein Kriegslazarett bestimmte Lebensmittel im Wert von drei Millionen Kronen unterschlagen und an adelige Freund_innen verkauft.

Eigennützige Hilfe.

Nach Kriegsende blieben Lebensmittel- und Brennstofflieferungen aus den ehemaligen Gebieten der Monarchie aus, die demobilisierten Soldaten mussten versorgt werden und die Zahl der Arbeitslosen stieg stark an. In Oberösterreich kam es im Februar 1919 zu massiven Hungerunruhen, in deren Verlauf ein 23-jähriger Kriegsinvalide erschossen wurde. Im Mai 1920 kam es in Linz erneut zu Protesten. Abermals wurden neun Demonstrant_innen erschossen und 22 weitere zum Teil schwer verletzt. Als Reaktion auf die fortschreitende Krise führte die Provisorische Nationalversammlung schon im November 1918 eine Unterstützung für Arbeitslose ein, auch aus dem Ausland kam Hilfe: Im Dezember 1918 schickte die Schweiz einen Zug mit Lebensmitteln nach Wien, im Jahr 1919 begannen die USA in ganz Österreich Lebensmittelausspeisungen für Kinder zu organisieren, andere Länder folgten. Doch diese Hilfe war nicht uneigennützig: Besonders die USA und Großbritannien fürchteten den Ausbruch einer «bolschewistischen» Revolution in Österreich. Die 1919 für kurze Zeit existierenden Räterepubliken in Bayern und Ungarn ließen Ähnliches auch für Österreich befürchten.

Anlass für Hoffnung.

In Wien kam es nach den ersten Gemeinderatswahlen vom 4. Mai 1919 zu keinen Hungerunruhen mehr. Die Sozialdemokrat_innen hatten bei den Wahlen die absolute Mehrheit erlangt und initiierten ein Sozialprogramm, das zwar nicht sofort Resultate zeitigte, dessen Verkündung aber unmittelbarer Anlass für Hoffnung war. Wichtigster Punkt darin war die Schaffung von neuem Wohnraum. Darüber hinaus sollten Gas und Elektrizität günstig zur Verfügung stehen. Auch gesundheitspolitische Maßnahmen setzte man auf die Agenda. Die Einführung einer Luxussteuer auf zahlreiche Güter wurde eingeführt – auch das eine Maßnahme von hohem Symbolwert. Die schrittweise Zurücknahme der Lebensmittelrationierungen und die damit verbundene Eindämmung des Schwarzmarktes, die erst 1921 abgeschlossen war, trugen ebenfalls zur Konsolidierung der Lage bei. Die unbestrittenen Vorteile der Wohnungs- und Sozialpolitik des Roten Wien hatten aber auch eine Kehrseite. Wer sie nicht in Anspruch nehmen wollte oder konnte – etwa traumatisierte Kriegsheimkehrer, die Schwierigkeiten hatten, sich ins neue Alltagsleben einzufügen – wurde schnell als asozial ausgegrenzt. So ortete etwa Julius Tandler, Stadtrat für das Wohlfahrtswesen im Jahr 1926 eine «antisoziale Einstellung» und einen «Mangel an Verantwortungsgefühl der Landstreicher», die eine Fürsorge für sie unmöglich mache. Das Ende des schlimmsten Hunger­elends sollte eben auch nicht ohne die Ausgrenzung Randständiger abgehen.