Weil WIENER WOHNEN nicht die Lösung ist, geht WILDER WOHNEN auf die Straße
In Spanien sorgt eine neue soziale Bewegung für Schlagzeilen, die Wohnungsdelogierungen durch kollektive Solidaritätsaktionen verhindern konnte. In Wien ist das Bündnis WILDER WOHNEN entstanden, das sich als Keim einer breiten Mieter_innenbewegung versteht. Der Augustin ist aktiver Teil dieser Plattform, die zum 90. Jubiläum der Erkämpfung des Mietrechts in Österreich (7. Dezember) ein spektakuläres Zeichen gegen Häuserspekulation und Mietwucher setzt.
Auch die Wohnungspolitik darf nicht Arme, sondern muss Armut bekämpfen. Diesen Imperativ würde jede_r unterzeichnen, dem oder der eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums ein Anliegen ist. Die rot-grüne Koalitionsregierung in Wien positioniert sich gerne in der Traditionslinie des «Roten Wien» der Zwischenkriegszeit, als das Wohnen zum Teil von seiner Warenförmigkeit befreit wurde und als es geradezu zur Stadt-Raison zählte, dass die Aufgabe der Politik sei, eine Stadt zu schaffen, in der auch Menschen mit geringem oder keinem Einkommen leben könnten.
Eine radikal progressive Besteuerung von Immobilieneigentum machte in dieser Periode die Ausbeutung von Mieter_innen unrentabel und führte in kurzer Zeit zur Zerschlagung des privaten Immobilienmarktes in Wien. Aufgrund der dadurch gesunkenen Grundstückspreise konnte die Gemeinde Wien nun eine Vielzahl von Grundstücken zu erschwinglichen Preisen erwerben. Bis 1922 vergrößerte sich der Grundbesitz der Gemeinde Wien von 5.487 ha. auf 57.670 ha., und Anfang 1924 war die Stadt bereits größter Grundbesitzer und verfügte über 2,6 Millionen Quadratmeter Bauland. Offensiv den Anteil des kommunalen Grundeigentums zu vergrößern (und nicht zu verscherbeln, wie es heute gang und gäbe ist), war Armutsbekämpfung und nicht Armen-Bekämpfung.
Das bewahrenswerte Erbe aus dieser Zeit: Fast 30 Prozent der Wohnungen in Wien sind Gemeindewohnungen, keine andere Stadt im westlichen Europa kann Ähnliches vorweisen. Die kluge Aufteilung der Gemeindebauten im ganzen Stadtgebiet führte dazu, dass es auch Menschen mit dem geringsten Einkommen möglich war, in zentralen Teilen der Stadt zu wohnen, selbst im historischen Kern. Menschen, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen waren, konnten zumindest vor Obdachlosigkeit bewahrt werden, weil das Wohnen nicht mehr nach Marktkriterien geregelt wurde.
Von diesem wohlfahrtstaatlichen Modell hat man sich auch in Wien radikal verabschiedet. Die Beendigung des kommunalen Wohnbaus, die Privatisierung des kommunalen Grundeigentums, die Aufweichung des Mieterschutzes, die Gentrifizierungsprozesse in immer mehr Stadtteilen wirken de facto wie ein Verbot für marginalisierte und einkommensschwache Menschen, menschenwürdig zu leben.
Ihre endgültige Demütigung erfahren sie in den Not- und Ausweichquartieren der sozialen Institutionen. Viele von ihnen weisen Charakterzüge «totaler Institutionen» auf. Das heißt: Die in ihnen systemisch angelegten Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt nehmen einen allumfassenden oder totalen Charakter an. Die Liste solcher Einrichtungen beginnt mit Häusern zur Betreuung unselbstständiger, aber keinesfalls die Sicherheit bedrohender Menschen: mit dem Blindenheim, dem Waisenheim, dem Altersheim. Dazu kommen Stationen der Fürsorge oder der Kontrolle von unselbständigen oder unselbständig gemachten Personen, die eine Gefahr für sich oder die Gesellschaft darstellen, wenngleich diese Gefahr in vielen Fällen eine medial konstruierte ist. Psychiatrische Anstalten zählen zu dieser Kategorie. Es folgen Einrichtungen zum Schutz der Gesellschaft vor Personen, die als gefährlich angesehen werden; Einrichtungen, die den Insassen per definitionem nicht bequemes Leben bereiten, sondern sie «ungefährlicher» machen wollen, paradoxer Weise mit Mitteln, die empirisch dazu ungeeignet sind, wie Bestrafung und Absonderung. Diese Orte heißen Gefängnisse. Es handelt sich, wenn man die soziale Struktur der Insass_innen betrachtet, um Armenasyle («Zimmer ohne Aussicht»).
Am Anfang des Teufelskreislaufs steht die Ware Wohnung. Ihre Warenförmigkeit kann zum Verlust der Wohnung führen. Der Verlust der Wohnung kann durch die Wohnungsform des Obdachlosenheimes oder die des Gefängnisses «aufgefangen» werden; sie unterscheiden sich in der Strenge der Hausordnung. Der Gefängnisaufenthalt erschwert eine Wiederkehr des dadurch Stigmatisierten in den «normalen» Wohnungsmarkt. Menschenwürdige Wohnpolitik versucht demnach, Bedingungen zu schaffen, dass noch bevor das Markt- und Konkurrenzprinzip insgesamt in Frage gestellt wird als erster Schritt das Wohnen aus dem Markt geholt wird. Anders kann Menschenrecht auf Wohnen nicht erzielt werden.
Das Bündnis WILDER WOHNEN ist ein im August ins Leben gerufenes Netzwerk von Personen, Initiativen und Organisationen, die von der Notwendigkeit einer starken Mieter_innenbewegung überzeugt sind. Erstmals haben die unterschiedlichsten «Kulturen der Unzufriedenheit» auf dem Gebiet des Wohnens zueinander gefunden. Die Palette reicht von Mieter_innen-Lobbyorganisationen, die mehr sein wollen als Mietrechts-Servicestellen, über Anti-Gentrifizierungsprojekte bis zur Hausbesetzungsszene.