Am SteinhofDichter Innenteil

Wennst net brav bist, kummst am Steinhof, zu die Depperten. Die Worte Stein und Hof schlossen sich zusammen, dicke Mauern um eine schattenhafte Mitte, ein Brunnenloch oder Burgverlies, in dem der Verurteilte im Rinnsal seiner Ausscheidungen verkommt. Wie das Einmauern der Antigone, das meine Vorstellung bannte. Eine Verbindung von Stein und Hof erfuhr ich auch in dem von Gemeindebauten umstellten Pflasterhof mit dem Kletterbaum aus Stein, dessen Arme zu breit und kalt waren, sodass er selten bestiegen wurde.

Grafik: © Karl Berger

Ein Baumstumpf mit abgeschnittenen Ästen, die wie abgenommene Gliedmaßen wirkten, und unseren Zustand als auch den Umgang unter uns unbeaufsichtigten Kindern symbolisierte, die sich gegenseitig beschnitten. Unser Spiel entsprach der gespannten Atmosphäre eines Gefängnisses, in dem das ausgeschlossene Innere, in eine angstvolle Leere geworfen, sich dem Zwang bindet. «Stein» a. d. Donau war mir ebenfalls ein Begriff für «Schwerverbrecher und Abnorme», die dem Ort den Namen gaben, dachte ich. Man hatte uns vor den Ausbrechern gewarnt. Mit argwöhnischem Blick schlichen wir um die mit Stacheldraht überspannte, fahle Mauer, und waren enttäuscht, nichts sehen zu können.

Wennst net brav bist, kummst am Steinhof. Mehrmals war ich dort gewesen, als Studentin, die Auskunft forderte über Lobotomie und Elektroschocks – letztere wurden noch meiner Mutter vorgeschlagen – als Verwandte einer psychisch Erkrankten, die in dicht gedrängter Bettenreihe auf der «Akuten» lag, phantasierend und unansprechbar, als Besucherin meines alkoholkranken jungen Nachbarn, dessen Knochen zerfielen, und den ich stützen musste vom weißen Gang in sein weißes Zimmer, zuletzt im Zimmer einer lungenkranken Freundin, die bald darauf starb. Ich war im Theater zur Vorstellung «am Spiegelgrund», sah die Erinnerungsstelen für die getöteten Kinder. Ich wusste über vieles Bescheid. Nie aber hatte ich die Anlage des Steinhof erfasst, nie den Bezug zum Ganzen hergestellt. Ich war mit persönlichen Schicksalen belastet und hatte den Blick auf den Boden gerichtet.

Bunte Ahornfinger und Kastanienblätter liegen wie ein Teppich, flirren umher im Licht. Die Weite hinter der Feuerwache, der Blick über die unberührte Landschaft bis zu den Anhöhen von Wien. Der Waldweg ist weich und gedämpft. Der Weg windet sich, umkränzt von Blättern und Sträuchern, führt an der Steinmauer entlang und wieder hinauf in den Wald und schräg über die Wiese in das bekannte Areal. Lange gehe ich, quer hindurch an geschlossenen Pavillons vorbei, ohne einen Menschen zu sehen. Nur die orangen Blätter von allen Seiten. Ich gehe vorbei an hohen, schmiedeeisern geschützten Fenstern, vergitterten Veranden, geschlossenen Toren. Severinsheim, Marienheim, Annenheim, Annenhaus, Küche, jedes Gebäude besitzt einen Namen, in großen Lettern in die Mauer geprägt. Ein Sorgfältiges, das berührt. Erstaunt blühen Namen auf in meinem Gefühl, ergreifen mich, Villa Wienerwald, Villa Vindobona, Karlshaus, Hermann, Leopold, Rosenvilla, Kurhaus. Ich fühle die Sommerfrische. Die hohen, alten Nadelbäume, die den Rasen kühlen. Das sanft umgelegte, weiße Badetuch, in dem die Gäste auf der Veranda die Beine in die Sonne halten. Doch niemand findet sich ein hier. Manche Häuser wirken zurückgesetzt in eine Ferne, niedrige seitliche Heime mit familiärer Atmosphäre – als ob sie nicht mehr hierhergehörten und man sie nicht mehr betreten sollte. Im Severinsheim sitzen einzelne Gestalten hinter dem grüneisernen Verandavorbau. Sind sie lungenkrank, ansteckend, aussätzig? Sind sie Verurteilte, die man nicht in Gefängnisse sperren kann? Fragend rufe ich zu dem alten Mann hinauf. Um die Ecke, sagt er. Tuberkulose steht auf dem silbernen Schild. Ich bin dankbar, dass der Luftzug keine Krankheiten überträgt, und eile weiter. Im Patienten-Café bitte ich um eine Tasse, ich hätte das Geld zu Hause gelassen. Empörung springt aus dem Gesicht meines Gegenübers. Wir sind ein normales Café.

Wie in einem Märchenwald

Ein neuer Tag mit Regen und Schirm und nassen Füßen. Ich umstreife das Gelände wie gestern. Komme zum Marienhaus und Marienheim, dem Küchen-Gebäude, finde nach kurzem die Tannen wieder in der Nähe der Rosenvilla. Die für Wohlhabende ausgerichteten Stätten im Westen, habe ich gelesen, hier waren die noblen Gäste des Otto-Wagner-Spitals auf Kur oder im Krankenhaus. Die Äste der hohen Tannen bilden sich symmetrisch nach allen Seiten aus, beugen sich ein wenig zu mir herab. Wie aus einem Märchenwald. Um sie herum schweigen die Bäume. Die nassen, braunen, müden Blätter, die klebrig am Boden haften. Durch einen Mauerspalt betrete ich das nächste Areal. Villa Vindobona haftet in rosa Lettern an der hautfarbenen Hausmauer. Die Villa ist einstöckig, der obere Teil durch eine hellere Farbe abgegrenzt, die Flügel niedrig und langgezogen. Ein roter Teppich hängt aus einem Fenster, Blumentöpfe, Essenswaren liegen auf den Simsen. Hier sehe ich Menschen. Sie tragen Säcke oder schieben Kinderwägen. Ich werde von einer Familie zum Tee eingeladen. Wie ruhig es ist im sonnendurchfluteten Zimmer, der weiche Blick durch das hoheitsvolle, helle Fenster. Das Parkett, in dem die wärmenden Strahlen baden. Die Familie ist zu fünft, ein bisschen eng, sagt die Frau und bietet mir den einen Sessel an, der in der Mitte steht. Sie setzt sich auf den Boden. Aus Afghanistan, sagt der Bub auf der Bettkante, dann Persien, jetzt Österreich. Ich werde Ingenieur oder Arzt, sagt er. Mühelos übersetzt er alles für seine Mutter. Danke, sage ich, ich komme wieder.

Frei stehen die Tannen, Fichten und Föhren. Zapfen aufrecht oder hängend. Dazwischen die verwunschenen Residenzen mit den grün gerahmten Veranden, einige mit Liegestühlen. Schön, dieses wellenartige Muster. Wie aus einem Schnitzler. Nur die vielen Gitter irritieren. Die gleichmäßig geriffelten Eisenmuster bis oben hin. Dreiteilige Fenster mit geschlossenen Glasflügeln und Gitterstäben. Nur selten ein freier Blick nach draußen. Ich gehe an der Südseite vorbei an einem von Mauern umgrenzten großen Wiesenstück. Inmitten ein herrschaftlich ausladendes Gebäude. Der Blick in einen gepflegten Garten. Die im Schutz zurückgezogene und bewahrte Eleganz. Ich gehe um das Grundstück herum zum versteckten, hinteren Eingang. Stehe vor Pavillon 17, und erstarre. Die unsichtbare Kehrseite der Dinge, denke ich. Ich blicke die Mauer hinauf zu jedem Stockwerk, zu den eisernen Fensterkreuzen, den Ausbuchtungen der Fensterwand und der Gitter ganz oben. Mein Blick bleibt an einem zersprungenen Glas haften. Verfängt sich in der Vielzahl der Spaliere. Sucht nach Möglichkeiten, von innen durch die Gitter hindurch die geschlossenen äußeren Glasflügel zu bewegen. Nur die Oberlichte scheint von innen mit einer Eisenvorrichtung kippbar. Überall Gitter zum Schutz, wer vor wem? Ich denke an die Menschenversuche, das Verhungern, die bewusste Ansteckung mit Krankheiten, an Euthanasie, denke an die behinderten Kinder, die Kinderheime der Nachkriegszeit, die Gewalt, die untergebracht war in ehemaligen Residenzen. Ich denke an Schloss Wilhelminenberg und die Nobelstätten, die eingemeindet wurden und nicht mehr dem Schutz der «Edlen», sondern dem Abschließen der «Unedlen» dienten.

Verzierte Uhrständer

Ich stehe unten am Haupteingang, vor dem Direktionsgebäude mit den zwei eisengrün verzierten Uhrständern, deren Zeiger sichtbar die Zeit berechnen. Das breite Portal mit linkem und rechtem Flügel, die Balustrade mit Balkon, die hohen, nach oben hin mehrfach geteilten Fenster. Otto Wagner Spital, ist eingraviert in die Hausmauer des herrschaftlichen Gebäudes. Stufen lenken in gerader Linie empor zum Theater, wieder die grünen Ornamente der Laternenträger, die breite, beidseitige Rampe und die hohen Flügeltüren, die den Besucher zu sich ziehen. Ich steige weiter über Stufen, bis die glänzende Kuppel der Kirche sichtbar wird, die den Gipfel weist. Jeder Lichtstrahl scheint die grün-goldene Kugel zu treffen, die aufblitzt über dem quadratischen Fundament mit den goldenen Gebilden, den strebsamen Engeln mit demütig gesenkten Gesichtern, deren aufgespannte Flügel in die Höhe ziehen. Schön und klar stellt sich das Göttliche vor, das über viele Stufen erklommen werden muss. Erhaben kann der Blick im Himmel über Wien schweifen.

Dunkelheit und Leere

Eine Frau geht vorbei, nostalgisch, sagt sie, diese Stille. Hinter dem Direktionsgebäude schlendere ich in der Dämmerung im verwirrenden Gelände der planmäßig angeordneten Pavillons, in denen kein Licht brennt. Ein feiner Nebel zieht um die gedehnten weißen Gebäude mit den weiß gewundenen Eisenstäben vor den hohen Fenstern. Dunkelheit und Leere hinter den Scheiben. Als ob die Räume hinaufgezogen wurden, aber nicht die Weite fanden, sondern im Korsett gehalten werden. Lungenheilanstalt, lese ich im bleichen Licht der Laterne über einem Eingang. Wie das Röntgenbild der Lunge erscheint mir das Dunkle hinter dem Gerippe der vergitterten Fenster. Eine einzige halbrunde Deckenlampe scheint weißlich in einem Raum, der nicht sichtbar wird. Es ist kalt. Meine Wangen frischen auf, der Wind sticht. Die hohen Laubbäume treten zurück, werden Schattenmuster. Auf blassen Türschildern lese ich: Psychiatrie, Neurologie, Medizinische Diagnostik, Pathologie, Forensische Psychiatrie. Von außen erkenne ich Gänge, keine Räume, die etwas zeigen könnten. Wissen um ihre Vergangenheit bemächtigt sich meiner Vorstellung. Anstalt zur Beobachtung psychisch Abwegiger, geistig oder körperlich Minderwertiger, Stätte für Schwach- und Blödsinnige, Kretinöse und Idioten, denke ich. Von der Aufnahme zur Beobachtung zur Leichenschau, denke ich. Ich gehe durch totes Gelände und höre Stimmen. Behandlung zum Tod. Speibinjektion, Schwefelkur, Elektroschock, Wickelkur, Kaltwasserkur. Das Verkommene, Abartige, Verirrte, Entartete, übel Gesittete muss ausgemerzt werden.

Eine Reihe von Fenstern, aufrechtstehend, wie es sich geziemt, an den verbogenen Eisengittern rütteln Geister, schneiden Grimassen, Flügeltüren öffnen, schließen sich, das Licht ist erloschen, Totes stiert, bleibt im Finstern. Angst breitet sich aus, die Toten auf den Bildern verwesen nicht. Hinabgezogen. Aus der Küche des Hauses fahren metallene Geschirrwägen das klinische Besteck. Aus weißen Säcken hängen Leichen oder Leinentücher. Desinfizierungsstation lese ich, Entnazifizierung. Tuberkulös, lese ich, pathogen, geriatrisch, psychiatrisch. Erste Heilanstalt für alkoholkranke Männer, lese ich. Freiwillig, frage ich. Willenlos geworden, denke ich. Im Schmerz. Ort des Schmerzes. Heilanstalt. Heil in städtischer Hand, im Anstaltsgewand, Anstalt für Verbrecher, Anstalt für Schwererziehbare, Anstalt für Kinder, Schule … Mach Anstalten, sagte meine Mutter. Sei nicht dumm, sonst kommst in eine Anstalt. Debil, imbezil, Idiotie, Worte, die mir meine Eltern vorsprachen, damit ich etwas dazulernte. Ich wusste, dass Heil nicht von heilen kommen konnte.

Vom Schmerz zur Wut, bis zur Spitze, steil hinab, das Schlagen nicht mehr spürbar, das Opfern, ein erster Schlag, der irgendwann begann, eine Steigerung, abwärts mit Härte der weitere Schlag, irgendwann Gewohnheit, das Opfer nicht spürbar … Ich sehe Peitschenhiebe, zitternde Kinderbeine, blutunterlaufene Körper. Ich kann nicht schlafen. Aus dem Auszug meines Buches steigt Übelkeit auf. Ein deutsches, jüdisches Kind wird in ein französisches Kinderheim verschickt, in dem die strukturelle, bis ins Kleinste ausgedachte Gewalt zur Auslöschung des Menschen, das Individuelle dem unterwürfig Zitternden zugeprügelt wurde. Man musste aufs Wort, aufs Wort, sagt meine Mutter, gehorchen, sonst lernte man den Schmerz kennen. Sie erzählt vom kleinen Bruder, dessen Striemen beim Töpfchengehen sichtbar waren. Vom Hass auf ihre Mutter. Ich fühle das Kind, dessen feine Sinne wie leuchtende Blätter schweben und sich ausbreiten und mit dem Umgebenden verbinden möchten, hinstreben zum anderen, und ein Peitschenhieb, der das Gebilde zerrreißt, einen Klumpen des Schmerzes erzeugt, der die leise Freude in einen Schrei verwandelt. Angsterstarrt der Körper, die gekrümmten Finger, die sich nicht lösen können.

Mit Pappe zugenagelt

Es ist sechzehn Uhr. Schon senkt sich der Tag, vom Dämmer eingeschlossen. Im Unkenntlichen leuchten Birkenblätter auf, rascheln in der Menge am Baum. Seine verletzlich feinen Glieder. Das auffallende Weiß des Stammes. Die Pavillons scheinen niedriger hier im Osten, die Abstände zwischen den Fenstern enger. Manche Pavillons gleichen Baracken, ihre Fenster sind mit Pappe zugenagelt. Überall Gitter. Ich lese Gärtnerei, Wäscherei, erkenne eine Art Fabrik oder Heizhaus, ein Kindertagesheim. Die ärmeren Patienten mussten arbeiten, habe ich gelesen, im Wiesenareal oben bei der Kirche oder in der Schneiderei und der Therapie-Werkstatt. Beschäftigungshaus, steht in großen Buchstaben an einer Hausmauer. Mit Planen beschlagene kaputte Fenster, abseits im Dunkeln ein backsteinfarbenes Gebäude, dessen Ziegel einzeln sichtbar sind. Dicke, doppelt vergitterte Fenster, eng und hoch, mit eisernen Streben, vielfach unterteilt. Forensische Akutpsychiatrie, steht auf dem Schild. Eine Frau mit weißem Kittel eilt vorbei, das Parterre ist beleuchtet. Halten Sie mich nicht auf, ruft sie, ein dringender Fall. Ich gehe um die hohe Steinmauer, die das Gebäude umgibt. Es ist ein Gefängnishof. Die Schichten aus Gitter und Scheiben, hinter denen der Insasse jedem Blick entzogen ist. Auch ihm können wir nicht ins Blickfeld kommen. Wie Medikamente, die jede Berührung dämpfen und in eine Ferne rücken, denke ich. Fröstelnd gehe ich zurück, durch den Matsch der Baustellen für die neuen Wohngebäude, die sich zwischen Rehaklinik und Denkmal «in memoria morte» zwängen, und beruhige mich im warmen Innenraum des Busses.