An der alten DonauDichter Innenteil

Wiener Ausfahrten Nr. 115

ausfahrten_donau.jpgNach einem Besuch im China-Restaurant Sichuan an der Arbeiterstrandbadstraße in Wien-Donaustadt hatte Groll trotz der herrschenden Februarkälte noch eine kleine Verdauungsfahrt an der Alten Donau unternommen. Beschwingt durch das Rindfleisch in der Sauce der tausendunddrei Geschmacksrichtungen und den Seetangsalat nach Tsingtao-Art war Groll bis zum Wasserpark hochgekurvt und befand sich nun auf dem Rückweg zu seinem Wagen. Vor dem Eingang zum Bundesbad war er überrascht, seinen Hietzinger Bekannten, den Dozenten, anzutreffen. Der war wie stets mit dem italienischen Rennfahrrad unterwegs: Um seinen Hals baumelte ein Paar Eiskunstlaufschuhe.

Was führt Sie in Zeiten der Wirtschaftskrise, der Kältekrise und der Stimmungskrise in weiten Teilen der Bevölkerung in die krisengeschüttelte Wiener Vorstadt?, fragte Groll und reichte dem Dozenten die Hand.

Er sei gekommen, einen Doppelaxel auf das spiegelnde Parkett zu zaubern, sagte der Dozent und schüttelte Grolls Hand erfreut. Des Weiteren plane er eine Expedition zu den Überresten einer alten Schiffsstation. Es seien nämlich Bestrebungen im Gang, die Station zu rekonstruieren und dem Publikum wieder zugänglich zu machen.

Er habe von diesem Unterfangen gehört, erwiderte Groll. Er frage sich, warum aus der Schiffsstation ein derartiges Geheimnis gemacht werde. Jedes Donaukind wisse, dass die Alte Donau ein Teil des seinerzeitigen Hauptarmes des Stromes gewesen sei; es sei daher nichts Besonderes, dass sich dort auch eine Schiffsstation befunden habe. Täglich dreimal seien von dort Postschiffe nach Budapest abgegangen. Eine Nachricht an die Liebste sei, sofern vormittags mit dem Schiff aufgegeben, abends am Nachtkästchen der Verehrten gelegen. Heutzutage könne man schon froh sein, wenn ein Brief nach Visegrád bei Budapest binnen Wochenfrist zugestellt werde.

In der Tat, der Fortschritt ist in diesem Fall ein Rückschritt gewesen, meinte der Dozent.

Seit der Donauregulierung ab Mitte der 1870er Jahre sei der Rückschritt in Wien die vorherrschende Form des Fortschritts, sagte Groll und berauschte sich in der folgenden Pause am Pathos seiner Worte. Der Dozent nahm eine Eintragung in sein kleines, stets griffbereites Notizbüchlein vor. Groll fühlte sich dadurch ermutigt, in seiner Rede fortzufahren. Ob der Dozent denn wisse, dass nahe der heutigen Straßenbrücke über die Alte Donau sich nicht nur eine Schiffsstation, sondern auch die älteste Schiffswerft der Neuzeit befunden habe? Schon in den frühen vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts seien dort nach englischem Vorbild Dampfschiffe für den grenzüberschreitenden Flussverkehr gebaut worden. Wenn ich mich richtig erinnere, trug die Werft damals den Namen des Herrschers Ferdinand, der im Volk der Gütige genannt wurde.

Mit diesem Beinamen habe man gern intellektuell unterbemittelte Habsburger versehen, sagte der Dozent. Aus einem gewöhnlichen Trottel werde solcherart fast eine liebenswerte Figur.

Man solle angesichts der gegenwärtigen Krise und des handelnden Personals nicht zu kritisch mit dem Geschlecht der Habsburger verfahren, sagte Groll. Und wieder horchte er dem Klang seiner Worte nach. Er wusste zwar, dass er Unsinn redete, aber immerhin war es einer mit Stil, und im Schatten des UNO-Centers fühlte Groll sich dazu berechtigt, seine Gedanken in Diplomatensprache vorzutragen. Als der Dozent das Rad an eine Laterne band und sich anschickte, die Eislaufschuhe startklar zu machen, beeilte sich Groll, seinen Freund zu warnen. Erst gestern sei eine ehemalige Stadträtin vor dem Restaurant Birner eingebrochen und bis heute nicht wieder aufgetaucht.

Sie können aber durchaus einen Doppelaxel auf den Asphalt zaubern. In Anbetracht der erschwerten Umstände würde ich mich auch mit einem einfachen zufrieden geben, sagte Groll.

Der Dozent schüttelte den Kopf. Ob er Groll ins Sichuan einladen dürfe? Er friere ein wenig, eine Schale Grüntee aus Tschungking und ein Erdhörnchenragout mit Sauce der zweiundneunzig Geschmacksrichtungen wäre jetzt das Richtige. Er nehme die Einladung dankend an, sagte Groll und freute sich schon auf die verdutzten Mienen der chinesischen Köche. Um in das Nobelrestaurant zu gelangen, musste man als Rollstuhlfahrer nämlich von der Rückseite des Gebäudes über eine schmale und steile Lieferantenrampe durch die Küche in die Gasträume fahren. Nicht nur brachte Groll dadurch Abwechslung in das eintönige Leben der Köche, er nutzte auch die Gelegenheit, sich in Woks und Pfannen umzuschauen und sich den einen oder anderen Tipp zu holen.

Wissen Sie, dass ich noch nie hier gespeist habe?, sagte Groll auf dem Weg zum chinesischen Lustgarten, der das Restaurant umgab. Ich war der Meinung, das Sichuan sei so teuer, dass die Zeche nur von Diplomaten, Botschaftern und hohen Mitarbeitern der nahe liegenden UNO-City zu begleichen sei.

Der Dozent nickte. Leider, für Normalverdiener sei das Restaurant nicht geeignet, sagte er. Er habe aber von seiner Mamá zum Jahreswechsel einen Sichuan-Gutschein über zweihundert Euro erhalten. Damit würden sie wohl durchkommen.

Ich befürchte eher, dass es knapp wird, meinte Groll. Er wusste, dass die Weinkarte hervorragende spanische Rotweine umfasste. Diese allerdings hatten einen stolzen Preis.