An die Zukunft. An meinen SohnDichter Innenteil

Komplementär Zeichnung: © Jella Jost

Es passierte unerwartet, gestern Abend. Dir ging es schlecht, geliebter Sohn, du hattest Herzrasen, Schmerzen in der Brust, Kreislaufbeschwerden und keinen Appetit. Wir warteten noch eine Nacht ab, ich dachte, du bist erst 17 Jahre, vielleicht liegt dir der langandauernde Sozialentzug durch die Corona-Erlässe bitter im Magen. Als Mutter mit einiger Lebenserfahrung würde ich sagen, du hast Angst vor der Zukunft, Angst vor dem, was da draußen abgeht, als sensibler, wacher, intelligenter junger Mann.

Die Welt ist in Aufruhr und wir müssen uns um sie kümmern, an sozialen, gerechten, demokratischen Prozessen und Lösungen arbeiten. Die Regierung erlässt rigide Verordnungen, doch die Bürger*innen lässt sie jäh im Stich, die Jugendlichen allein, denn wo gibt es unkompliziert kostenlose therapeutische Hilfe für alle, die diese Ausnahmesituation als traumatische Belastung erfahren müssen? Du magst das oft nicht direkt aussprechen, lieber Sohn, deine schulischen Leistungen sind zwar ausgezeichnet, ich bin stolz auf dich, aber das Emotionale bleibt überall auf der Strecke, obwohl das doch unser Thema ist, überall auf der Welt. In unserer Kleinfamilie haben wir gelernt, die Dinge beim Namen zu nennen, bevor ein Gefühl sich unter falschem Namen als blinder Passagier einnistet und den bösen Kasperl spielt. Das haben wir durchgestanden, diese verrückte Zeit. Wir sind schlauer geworden dadurch. Doch, durchaus, das kann man so sagen, das erlaube ich mir zu sagen, gänzlich ohne mir dabei auf die Schulter zu klopfen, hielt ich mich doch ein Leben lang für zu dumm, zu hässlich, zu blöd – da ich in meiner Jugend nur denen glaubte, die mir die Erniedrigungen täglich ohne Scham in den weichen Bauch traten. Denn so geht es an den Schulen und in den Büros zu. Machen wir uns da nichts vor. Vieles ist in uns und um uns herum manchmal zauberhaft verwandelt. Überwiegend dirigiert die lange Kralle der Bösen Fee. Dann wird irgendwann laut nach der Guten Fee gerufen, deren Wohnsitz wir nicht kennen. Manchmal lebt sie in uns, manchmal außerhalb, was weiß man schon.

Mit viel Liebe, Optimismus und Ausdauer und vor allem mit einer Riesenportion Offenheit dem Leben, den Menschen und sich selbst gegenüber, haben wir uns zu viert aus dem Schlamassel befreit. Und ich ahnte, nur so entsteht Wachstum. Und Glück. Und wir reden vom unausweichlich Menschlichen, nicht von Zahlen. Das unmittelbar Menschliche kehrt man gerne wie Staub in dunkle Ecken und tut so, als wäre das normal. Die Leute von der Rettung gestern waren solche Menschen. Ich wollte selbstverständlich mitfahren, als man dich gestern mit dem Krankenwagen ins Spital brachte. Die Rettung teilte mir mit, dies sei nicht erlaubt. Wegen Corona. Zum Schutz der Anderen. Ich war sprachlos. Ging zurück in die Wohnung. Sitze da am Tisch mit meinem Mann, der auch kein Wort sagt. Und dann wird mir alles bewusst und plötzlich schreie ich aus voller Kehle, ich schreie den Schrei der totalen Verzweiflung, ich brenne, ich bin eine Flamme, wenn das Kind der Mutter entrissen wird, tiefer Schmerz durchfährt mich, ohnmächtig, den geliebten Körper meines Sohnes der medizinischen Obrigkeit überlassend. Ich erlebe mich rastlos, immer unruhiger werdend. Ich denke an all die verzweifelten Angehörigen, die ihre Kranken nicht besuchen dürfen. Dann entschließe ich mich darüber auf Facebook zu schreiben. Ich setze Großbuchstaben, damit ich auch visuell meiner Ohnmacht Ausdruck verleihe und bitte um juristischen Beistand. Ich spreche wehklagend aus, was so nie hätte passieren dürfen. Mein Beitrag hatte große Resonanz auf meinem Account, was mich doch sehr überraschte, und einige meiner Freund*innen erzählten daraufhin ihre Storys, die durchaus erwähnenswert sind. Geht es doch ums Sterben, ums Kranksein und die durch die derzeitigen Corona-Erlässe damit verbundene Verweigerung von Körperlichkeit zwischen Betroffenen und Angehörigen zuzulassen. Ich bin letztendlich aufgewacht durch eine Kollegin, die mich auf mein Recht hinwies, sehr wohl meinen minderjährigen Sohn begleiten zu dürfen, und so stieg ich maskiert ins Taxi um Mitternacht, um ihn – trotz Widerstand am Eingang – aus dem Spital abzuholen, nachdem die Befunde nicht alarmierend waren. Die zwei Stunden, bis ich den Entschluss fasste, ihn zu holen, lieferte ich mich quasi der Obrigkeit ohnmächtig aus. Das war ein durchaus grausamer Zustand, der einer Folter glich. Wie entsetzlich muss es sein, dachte ich mir, Sterbenden nicht beistehen zu können, körperlich nicht präsent zu sein, ihnen nicht nahe sein zu können. Kontaktsperre. Einer der bittersten Begriffe in einer uns allen neuen Situation.

Die Politik des Krankenhausalltags ist gesichtslos geworden. Das Krankenhauspersonal agiert in Einheitsschutzanzügen, maskiert und unkenntlich. Der Mensch dahinter wird nur mehr erahnt. Das fehlende Nachdenken über die Notwendigkeit von durchsichtigem Schutzmaterial wäre ein Indiz dafür, ob uns der Mensch wichtig bleibt oder nur seine konturenhafte Funktion. Sterben auf der Intensivstation bedeutet derzeit meistens, keine Menschen mehr zu sehen. Es ist nicht sicher, ob das zu überleben ist.

Mensch, da schwillt mir die Krawatte!

Ich telefoniere mit einer Bekannten, Krankenschwester, die im Hospiz in Hamburg arbeitet. Sie hat guten Humor und sprüht voll Energie. «Die Alten haben keine Lobby», erzählt sie «Ja klar, Alte und Kranke am liebsten raus aus dem System mit einem Fußtritt, Mensch, da schwillt mir die Krawatte!» Das ganze Leben sei Gefühl, sagt sie «Wie sollen die Angehörigen denn in Ruhe weiterleben, wenn sie nicht Abschied nehmen können?» Sterbende Menschen, das ist ein Tabuthema, weiß sie, ich solle das Buch von dem Palliativmediziner Gian Domenico Borasio unbedingt lesen. Sie erzählt weiter, «man entmündige durch die Verordnungen die alten Menschen in Heimen und die Schwerkranken und woher soll Jens Spahn oder Kanzler Kurz denn wissen, was tatsächlich an der Basis los ist? Eines von vielen Problemen ist, dass Alte aus den Heimen, sobald sie wegen irgendetwas ins Krankenhaus kommen, nicht mehr zurück ins Heim dürfen wegen Corona. Die Zivilbevölkerung muss sich enorm einsetzen, um Vorschläge der Politik unterbreiten zu können, die nur in Schwarz-Weiß denkt. Den Kirchen ist das gelungen, Gottesdienste finden wieder statt.» «Was wäre möglich?», frage ich sie. «Das Personal schützen. Fixe Zeiten für Besuche, in denen sich das Personal total zurückzieht. Das wäre machbar. Die Kranken sind sozial völlig ausgehungert!» Ich denke, wenn die Verantwortlichen wollen, stehen Möglichkeiten im Raum. Ein Eingeständnis der Regierung, auf dieses werden wir wohl lange warten können, hat sie offenbar doch zu spät gehandelt, da am 9. Jänner bereits eine Warnmeldung des EU-Krisenmanagements ausging, eine Lücke von zwei Monaten, in der Notfallpläne ausgearbeitet hätten werden können, Schutzausrüstungen besorgt und restriktive Zwangsverordnungen für bestimmte Ausnahmefälle abgemildert hätten werden können. Im Spiegel las ich die todtraurige Geschichte einer Tochter, die ihre Mutter im Altenheim sterben sieht, obwohl das zu verhindern gewesen wäre. Eine Abklärung auf SARS-CoV-2 solle nur bei Krankheitsanzeichen wie Fieber gemacht werden, schrieb das Robert-Koch-Institut ihr. Außerdem werden «aktuell die Laborkapazitäten unnötig belastet». Es ist ein Satz, der die Tochter bis heute verfolgt. Einen Test bei meiner Mutter als unnötig zu bezeichnen, finde ich menschenverachtend, sagt sie.

The Artist Is Not Present*

Die Welt, in der ich aufwuchs und in der ich bis unlängst lebte, war eine Welt, die ich deshalb so liebe, weil ich immer wieder aufs Neue von Menschen aus so unterschiedlichen Kulturen und Ländern überrascht werde, trotz meiner Vorsicht und meiner Ängste. Immer wieder sehne ich mich nach Menschen, denen ich – möglicherweise da und dort – begegne, die sekundenweise in mir ein Gefühl von Unbekanntem auslösen, und wenn sich genau das in mir auflöst, entsteht ein unfassbarer Moment des Verstehens und Vertrauens, der so oft ohne Worte auskommt. Dann genieße ich die Kommunikation und den zwischenmenschlichen Austausch, denn er gehört zu den befriedigendsten Eigenschaften unseres Menschseins und er darf uns in keinem Fall genommen werden. In keinem Fall. In so vielen Artikeln erkenne ich kein Gefühl, keine Trauer, keinen Bezug zum Thema Körper und zum Sterben. Und ich sage euch: Kümmert euch um euer Sterben und das eurer Nächsten, sonst wird es eine Verordnung tun, ein Erlass oder euer Geburtsjahr oder noch schlimmer: eine Statistik. Es treten in der Krise knallrot die Tabus hervor als Warnsignal wie ein Ausschlag einer immer wieder aufflammenden Borreliose. Bei aller medizinischen Bedeutung vom Therapieren körperlicher Erkrankungen sollte man mit der Extubation des Denkens beginnen, damit wir wieder eigenständig denken und fühlen können. Mein Sohn, ich rieche dich, ich erlebe dich, deine Zukunft ist nicht morgen, sie ist jetzt.

 

* The Artist is Present, hieß eine Performance von Marina Abramović.