Anders kranktun & lassen

Psychische Krankheiten sind nach wie vor ein Tabu. Dabei ist jede Peinlichkeit fehl am Platz. Peinlich ist höchstens, dass es zu wenige Kassenplätze für die betroffenen Patient_innen gibt.

Text: Klara Bleier
Illustration: Silke Müller

«So sieht ein Irrer aus!» Wolfgang Willi stellt sich vor. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, Krawatte, die Schuhe glänzen. Er führt durch die Gänge des Innenministeriums, seines Arbeitsplatzes. Der 59-Jährige ist Doktor der Rechtswissenschaften, Behindertenbeauftragter des Bundesministeriums für Inneres und Geisteskranker. Zu dem Schritt, zum Psychiater zu gehen, habe er sich überwinden müssen, erzählt er. Seit 1997 stehe er unter ärztlicher Behandlung. Die Diagnose lautet Bipolarität; er ist manisch-depressiv, hätte man früher gesagt. «Ich leide unter der Depression, unter der manischen Phase leiden die anderen. Für mich selbst ist das herrlich, ich könnte die Welt niederreißen.» Seine Grundhaltung sei lange gewesen, gegen die Erkrankung ankämpfen zu müssen. Mittlerweile habe er sich mit ihr arrangiert, sagt er, mehr noch, er kokettiere damit, um anderen die Scheu davor zu nehmen, über ihre eigenen psychischen Probleme zu reden.

Viel Bedarf, wenige Plätze.

Die anderen – das sind 39 Prozent der Menschen in Österreich. So viele Teilnehmende gaben im Zuge der im Jahr 2020 durchgeführten Studie des Berufsverbandes Österreichischer Psycholog_innen (BÖP) an, aktuell von einer psychischen Erkrankung betroffen oder es in der Vergangenheit gewesen zu sein. Nur 63 Prozent der Befragten würden Familie und Freundeskreis davon erzählen, erkrankt zu sein. Die Studie verdeutlicht außerdem die Dringlichkeit einer Verbesserung der Versorgungslage, denn nur zehn Prozent sind der Ansicht, dass psychisch Kranken ausreichend geholfen wird.
Vor allem die fehlenden, durch die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK) finanzierten Psychotherapieplätze sind für viele eine Hürde auf dem Weg zu einer passenden Behandlung. Das kritisiert nicht nur der BÖP. «Einen Therapieplatz auf Kasse zu finden, ist eine Sache von Monaten», so Cassandra Cicero. Die Klinische und Gesundheitspsychologin ist Obfrau des Wiener Vereins SPADE, einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Vor allem für jene, die am dringendsten eine psychotherapeutische Behandlung benötigen, sei es unmöglich, dutzende Therapeut_innen zu kontaktieren, bis sie einen Ersttermin ergattern.

Eine Frage der Bewilligung.

Sogenannte Clearingstellen, die Betroffene dabei unterstützten, einen Zugang zu kassenfinanzierter Psychotherapie zu bekommen, gibt es bisher nur in Nieder- und Oberösterreich. In Wien übernimmt diese Aufgabe der Verein für ambulante Psychotherapie (VAP). Angela Schoklitsch ist Mitarbeiterin der Clearingstelle Niederösterreich. Die Wartezeit auf einen Ersttermin bei Therapeutin oder Therapeut sei je nach Bezirk sehr unterschiedlich, sagt sie. Sie könne ein bis zwei Wochen, drei bis vier Monate oder mehr betragen. Auch Schoklitsch hält die Versorgungslage psychisch Kranker für optimierbar, betont aber, es habe sich bereits einiges getan. Die Niederösterreichische Clearingstelle habe 2020 mehr Personal und somit mehr Kapazitäten erhalten. Die Plätze für vollfinanzierte Psychotherapie würden stetig aufgestockt. Nun sollen Clearingstellen in allen Bundesländern entstehen, und für die ersten dreißig Therapieeinheiten soll bald keine Bewilligung durch die ÖGK mehr notwendig sein.
Cassandra Cicero weiß, dass das Einholen dieser Bewilligung für psychisch Kranke einer Tortur gleichkommen kann. Mängel sieht sie auch bei der Akutbehandlung. «Das Personal in den Spitälern ist so überlastet, dass sie auch Menschen entlassen, die suizidal sind.» Ein gutes Angebot gäbe es im Bereich der psychiatrischen Rehabilitation. Was aber Personen mit langjährigen schweren Erkrankungen betrifft, habe eine einmalige sechswöchige Reha selten anhaltenden Effekt, so Cicero.
«Ich kann es mir glücklicherweise leisten, meine Behandlungen voranzutreiben. Andere müssen sich das Geld vom Mund absparen und bekommen dann auch noch einen Dreck refundiert», sagt Wolfgang Willi. Er verdient gut. Seinen Psychiater besucht er seit 2013 regelmäßig in dessen Privatpraxis. Auf eine Psychotherapie kann Willi verzichten. Sein wirksames Ansprechen auf Psychopharmaka sowie das gute Verhältnis zu seinem Arzt, der sich für seine Anliegen viel Zeit nimmt, ließe das zu. Daran hätte auch Covid-19 nichts geändert, wie er sagt.

Zehn Diagnosen.

Oana Iusco antwortet auf die Frage nach ihrer Diagnose: «Ich habe alle.» Seit ihrem ersten Krankenhausaufenthalt im Jahr 2004 wurden der heute 35-Jährigen rund zehn verschiedene psychiatrische Diagnosen gestellt, darunter Persönlichkeitsstörungen, Psychosen und Angststörungen. «Das hat dazu geführt, dass ich mich mit keiner davon identifizieren kann», sagt sie. In Krankenhäusern habe sie die besten und die schlechtesten Erfahrungen gemacht. Vor allem die Zwangsmedikation, der sie sich aussetzen musste, habe sie sehr verängstigt. Nach mehreren gescheiterten Versuchen einer Medikamententherapie entschied sie gemeinsam mit ihrer Psychiaterin, die Medikation abzusetzen.
Iusco leitet als Peer-Beraterin Selbsthilfegruppen und Workshops. Ihre Erkrankung betrachte sie als Überlebensmechanismus, als Ergebnis ihrer Biografie, und die Symptome stets als etwas, das mit ihrer Biografie in Zusammenhang stehe. Seit ihrer Kindheit hört sie Stimmen. «Es ist ein großer Unterschied, ob ich die Stimmen nur höre, oder ob ich ihnen auch zuhöre», sagt sie. Diese Strategie erlaube es ihr, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. «Ich studiere, ich arbeite. Als ich als Jugendliche im Krankenhaus war, wurde mir gesagt, dass das für mich wohl nicht möglich sein wird.» Iusco hat Wege gefunden, mit ihrem Seelenleben umzugehen.

Belastet durch die Pandemie.

Cassandra Cicero bemerkt, dass sich der Zustand ihrer Klient_innen seit Beginn der Pandemie tendenziell verschlechtert hat. «Ich habe mit Leuten zu tun gehabt, die nach dem Entzug ihrer Therapie schwer suizidal geworden sind», sagt sie. Obwohl es per Verordnung keine Verpflichtung dazu gab, wurde seitens der Berufsverbände dazu aufgerufen, Psychotherapieeinheiten telefonisch oder online abzuhalten. Viele psychotherapeutische Praxen blieben geschlossen. Für Selbsthilfegruppen wurde in der seit Februar 2021 geltenden 4. Covid-19-Schutzmaßnahmenverordnung eine gesetzliche Ausnahme geschaffen. Davor waren diese als Veranstaltungen deklariert und somit nicht beziehungsweise nur eingeschränkt erlaubt. Die durch den Verein SPADE organisierten Gruppenzusammenkünfte würden für manche der Teilnehmenden den einzigen sozialen Kontakt darstellen, so Cassandra Cicero. Die Treffen über digitale Kanäle seien nicht gut angenommen worden. Einige derer, die zuvor regelmäßig an den Treffen teilgenommen hätten, seien auch nicht mehr in die Gruppe zurückgekehrt, als diese wieder wie gewohnt stattfinden durften.
Die Clearingstelle Niederösterreich verzeichnet seit Beginn des Jahres 2021 einen deutlichen Anstieg des Bedarfs an Psychotherapie. «Wir hatten im April 2020 eine sehr ruhige Phase, vor allem im Vergleich zum April 2021. Seither melden sich so viele wie noch nie», sagt Angela Schoklitsch. Die Problematiken seien komplexer und dringlicher geworden. Es zeige sich, dass die Pandemieerfahrung vergangene, teils traumatische Erlebnisse triggern könne. Weiters seien vermehrte familiäre und partnerschaftliche Konflikte zu bemerken. Für in Wien lebende Personen sei die Lage aufgrund der eingeschränkten Bewegungsfreiheit von Anfang an prekärer gewesen. Bereits vor Ausbruch von Covid-19 hätten sich überwiegend Frauen an die Clearingstelle gewandt. Schoklitsch: «Das liegt aber nicht daran, dass Frauen häufiger an psychischen Störungen erkranken, sondern daran, dass sie ein anderes Hilfesuchverhalten haben als Männer.»

Allein- oder in Ruhe gelassen.

Frauen leiden tendenziell stärker unter den Folgen der Pandemie, stellte die Wiener Sigmund-Freud-Universität fest. In einer repräsentativen Umfrage wurden in zwei Befragungsrunden im Mai 2020 und im März 2021 die Belastungen der Österreicher_innen erfasst. Die Ergebnisse zeigen eine Zunahme der psychischen und körperlichen Belastung. Sehr deutlich ist der Anstieg bei Personen im Alter von 18 bis 30 Jahren, vor allem bei Frauen mit Mehrfachbelastungen.
Manchen psychisch Kranken, meint Cassandra Cicero, sei es wiederum besser ergangen. «Behörden und Ämter haben die Leute in Ruhe gelassen.» Speziell Personen mit Sozialphobien hätten die aus Covid-19 resultierten Umstände zum Teil als angenehm empfunden. Sozialer Rückzug, Distanzhalten und eine fehlende Tagesstruktur – Begleiterscheinungen vieler psychischer Krankheiten – waren allgemein legitimiert.
Wolfgang Willi sitzt an seinem Schreibtisch. Hier verbringt er bis zu 13 Stunden am Tag. Manchmal mute er sich zu viel zu, sagt er. Dass Schlimmste an seiner Erkrankung seien die schnellen Stimmungswechsel; er spricht von einer Wellenbewegung. Die Episoden würden sich gegenseitig aufschaukeln, bis in keinem Moment mehr Ausgeglichenheit herrsche. «Ich fühle mich ausgeglichen, wenn ich arbeite. Ich brauche eine sinnstiftende Beschäftigung, wie alle Menschen.» Mit der Normalität sei es wie mit der Schönheit, sagt er: «Sie liegt im Auge des Betrachters.»

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