«Anfangs war es sehr familiär»tun & lassen

Riki Parzer hat den Augustin 1995 mitgegründet. Aus einem kleinen Projekt wurde eine Wiener Institution (Foto: © Mario Lang)

Riki Parzer hat den Augustin mitgegründet. Gefallen hat ihr neben den guten Festen und dem Chorgesang des Stimmgewitters vor allem die minimale Bürokratie, die Zeit für das Wesentliche ließ.

Nach dem dritten oder vierten Jahr habe ich gewusst, dass ich beim Augustin in ­Pension gehen kann. Vorher war ich eher eine Jobwechslerin – wenn mir fad war, bin ich gegangen. Aber beim Augustin habe ich wahnsinnig gern gearbeitet.
Ich hab in den 1990er-Jahren auf der Sozialakademie studiert und musste ein Abschlussprojekt machen. Robert Sommer wollte damals ­gerade eine Straßenzeitung gründen. Unsere Grundidee: Obdachlose – das war unsere Zielgruppe – sollen schnell und unbürokratisch Geld verdienen können und, wenn sie das wollen, auch selber schreiben. Es gab drei ­Fixpunkte: Wir wollen unsere Unabhängigkeit wahren und von niemandem finanziell gefördert werden; wir schließen ­keine ­Gruppe von Menschen – wie zum Beispiel Alkoholkranke – aus; und wer die Zeitung aus finanziellen Gründen verkaufen möchte, kann das tun. Die Unabhängigkeit hat für uns bedeutet: Die Verkäufer:innen konnten und können entscheiden, wo, wann und wie viel sie verkaufen. Das wäre in einer geförderten Institution nicht gegangen. Aber was soll ich als Nicht-­Obdachlose ­einem fünfzigjährigen Sandler vorschreiben, der viel mehr Erfahrung auf der Straße hat? Der hätte sich auch gar nichts sagen lassen. Und auch als Sozialarbeiter:innen hatten wir ­unsere Freiheit. Ein Kollege hat eine Theatergruppe gegründet, eine andere Kollegin eine Tischtennisgruppe … Das war schon super!

Lehrjahre

Zu Beginn sind wir von Einrichtung zu Einrichtung gegangen, um unser Projekt vorzustellen. Das hat sich als recht schwierig erwiesen. Erstens hatten wir ja noch keine Zeitung vorzuweisen und zweitens sind wir auf großes Misstrauen gestoßen, dass wir uns an den Obdachlosen bereichern wollen. Nach langem ­Suchen haben wir zwei Verkäufer gefunden. ­Interessanterweise war es mit dem ­Schreiben ganz anders: Als wir die Obdach­losen-Autorenwerkstatt vorgestellt ­haben, haben sich gleich zehn ­gefunden, die mitmachen wollten. ­Einer der ersten beiden Verkäufer hat den Behörden erzählt, dass er zum Einstieg ein paar Zeitungen gratis bekommen hat. Was haben sie gemacht? Sie haben den Verkaufspreis ­ausgerechnet und ihm den Betrag von der Sozialhilfe abgezogen! Daraufhin haben wir beschlossen, mit den Behörden nichts mehr zu tun ­haben zu wollen.
Die Unabhängigkeit war ein hohes Gut: Wir mussten niemandem Bericht erstatten, wir haben sehr frei gearbeitet. Als wir sieben oder acht ­Verkäufer hatten, haben wir beschlossen, eine ­eigene Zeitung zu machen. Eine Versicherung hat uns damals 30.000 Schilling gegeben, und wir haben den ersten Augustin gedruckt. Dann haben wir ein Fest im Rathaus gefeiert – Robert Neuwirth hat die Musik gemacht und Chris Lohner hat moderiert. Ein super Fest! So wie die Augustin-Feste überhaupt alle super waren. Zum Opferball, den wir parallel zum Opernball veranstaltet haben, kamen 2.000 Leute in die Sofiensäle.
Sobald der Augustin da war, sind recht schnell mehr Verkäufer dazugekommen – damals wirklich die klassischen Sandler, wenn man so will. Die ersten Zeitungen haben wir in der Heilsarmee für Männer und in der Gruft ausgegeben. Aber bald hatten wir genug Geld, um ein Büro zu mieten. Anfangs waren wir alle gemeinsam im Trägerverein Sand & Zeit, die Verkäufer:innen genauso wie die Sozialarbeiter:innen. Wir waren um die zwanzig Leute, es war sehr familiär. Sowie die Gruppe größer wurde, kamen die ersten Beschwerden. Wir haben jede Station der Wiener ­Linien und jeden Supermarkt abgeklappert, haben uns offiziell mit Infobrief vorgestellt und darum gebeten, dass man sich bei Wickeln erst an uns wendet – nicht gleich an die Polizei. Ende der 1990er kamen dann die ersten jungen Verkäufer:innen zu uns, ein ­Gruppe von Junkies. Die haben sich mit den ­Alten nicht sehr gut verstanden, aber man hat sich aneinander gewöhnt. Und Anfang der 2000er kamen viele afrikanische Verkäufer:innen.

Sternstunden

Was mir sozialarbeiterisch beim Augustin so getaugt hat: ­keine Bürokratie. Wir mussten niemandem Bericht erstatten, wir hatten eine kleine Kartei für die Verkäufer:innen, das war’s. Man konnte die ganze Zeit, die man anderswo mit Bürokratie verbringt, für die Verkäufer:innen nutzen. Herumgeschlagen haben wir uns in der Anfangszeit vor allem mit dem Versuch von außen, den Augustin in die Gemeinde Wien einzugliedern. Hätten wir verloren, wären wir eingemeindet worden in den Fonds Soziales Wien, und dann ist von Unabhängigkeit ­keine Rede mehr. Es war eine Sternstunde für mich, als wir diesen Kampf gewonnen haben. Und eine andere ­Sternstunde war die Gründung des Stimmgewitters – ich erinnere mich gut an unseren ersten Gesangsvereinsabend. Ich hab ­gewusst: Genau das will ich machen!

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