Erhan Altan - ein Vermittler zwischen poetischen Welten
schtzngrmm: Was für ein Wort! Man kennt es wohl aus dem Deutsch-Lesebuch. Es stammt aus einem Gedicht des Wiener Schriftstellers Ernst Jandl (19252000), der damit seine traumatischen Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg verarbeitete. Um den Gefechtslärm darzustellen, kam er auf die Idee, die Vokale des Wortes Schützengraben einfach wegzulassen und das Wort zum Lautbild einer Gewehrsalve zusammenzuziehen. Seine dichterische Methode steht im Zusammenhang der österreichischen Avantgarde-Dichtung der 1950er- und 1960er-Jahre angetrieben von der Entdeckung, dass Sprache nicht bloß ein Kommunikationsmittel zur Artikulation von mehr oder minder eindeutigen Botschaften, sondern gestalt- und formbar ist wie der Stoff, aus dem bildende Kunstwerke entstehen. Das Schriftbild wird zum Lautbild wird zum Klangbild und umgekehrt.
So weit, so originell so unübersetzbar. Und doch finden sich immer wieder hartnäckige Poesieliebhaber, die von den poetischen Gestaltungsmöglichkeiten einer fremden Sprache so fasziniert sind, dass ihnen dämmert nein, nicht was ihnen in ihrer eigenen Sprache fehlt, sondern was in ebendieser noch schlummert und deshalb schleunigst geweckt gehört. Poesie war in der Türkei immer die wichtigste und traditionellste Kunst, die aber auch am meisten vom Staat unterdrückt wurde, sagt Erhan Altan, 1963 in Istanbul geboren und seit 1986 in Wien beheimatet. Man denke nur an den großen Dichter Nâzm Hikmet, der viele Jahre seines Lebens im Gefängnis verbringen musste. Gleichzeitig existiert bei uns die romantische Vorstellung, dass die Dichter weise Menschen sind, deren Wort besonderes Gewicht hat.
Die Verbundenheit mit der Tradition hatte Altan zufolge den Effekt, dass sich jenseits dessen selten neue und freie Formen des Dichtens entwickeln konnten. Umso größer die positive Erschütterung, die ihm widerfuhr, als er 1995 in jenen Räumlichkeiten, die sich nunmehr Museumsquartier nennen, bei der Veranstaltungsreihe Literatur im März mit experimentellen Dichtern wie Friedrich Achleitner, ehemals Mitglied der legendären Wiener Gruppe, konfrontiert wurde. Ich war dort vier Tage und habe keine Lesung versäumt. Danach lag ich krank im Bett, weil meine Ressourcen erschöpft waren. Die kurzfristige Überforderung bildet die Basis einer langfristigen Beschäftigung, deren Auswirkungen gegenwärtig noch kaum abzusehen sind.
Die Ignoranten des Volkes
Altan, der nach einem Studium der Elektrotechnik Mitte der 1980er-Jahre nach Wien gekommen war und sich auch später beruflich immer in poesiefernen Zusammenhängen umgetrieben hatte, beginnt nicht nur, systematisch die österreichische Avantgarde der Nachkriegszeit zu lesen, sondern bald schon und zunächst quasi unabsichtlich zu übersetzen: Durch die Veranstaltung haben sich bei mir alle Zellen und Poren geöffnet. Wahrscheinlich war ich die ganze Zeit schon auf der Suche nach einer neuen Poesie, ohne es zu merken. Um nicht länger alleine vor sich hinzudilettieren, trägt er die gefundenen Gedichte in eine schon länger existierende private Lyrik-Runde: eine Gruppe von vier türkischen Männern, die einander alle zwei Monate treffen und Lieblingsgedichte vorlesen. Das waren sehr naive, aber auch sehr schöne Abende, erinnert sich Altan an die von der Avantgarde noch unberührte Vorzeit.
Initialzündung für die gemeinsame Übersetzungsanstrengung wird unter anderem der legendäre Katalog des Konzeptkünstlers Peter Weibel zur Kunstbiennale in Venedig 1995, in dem er die Werke der Wiener Gruppe in Erinnerung ruft und den Altan an seine Kollegen verteilt. In der Gruppe entstehen daraufhin erste übersetzerische Gehversuche, unter anderem an drei Gedichten von H. C. Artmann, die jedoch zunächst keine türkische Literaturzeitschrift drucken will. Den Grund für die Skepsis ortet Altan nicht zuletzt im weitgehenden Fehlen einer radikalen Avantgarde in der türkischen Literatur. In den 1950er-Jahren gab es zwar eine Gruppe von Dichtern, die damit begannen, den klassischen Vers zu fragmentieren. Gleichzeitig gab es die erste Ausstellung von abstrakter Malerei und das Entstehen von atonaler Musik alles in Ankara.
Diese Neuerungen fanden jedoch vor allem in der Poesie kaum eine weitere Entwicklung im Gegenteil: Von den Sozialrealisten der 1970er-Jahre wurden diese Dichter als Ignoranten des Volkes verspottet, erzählt Altan. Zu dieser Zeit war man so politisch, dass die Kunst nur als Werkzeug der Politik betrachtet werden konnte. In einer Stimmung, in der Realismus zum Dogma wird, verschwindet der Platz für eine Literatur, deren Potenzial nicht zuletzt darin besteht, jegliche Form von Ideologie in Frage zu stellen.
Erhan Altan selbst erlebt als Student die Auswirkungen der Unfähigkeit der in tausend Fraktionen zersplitterten türkischen Linken, mit inneren und äußeren Widersprüchen umzugehen. Er inskribiert 1980, drei Wochen nach dem Militärputsch, Elektrotechnik an der Technischen Uni, die immer eine sozialistische Hochburg war. Einmal marschiert ein mit einer Maschinenpistole bewaffneter Soldat bei einer Chemie-Vorlesung ein eine Geste der Einschüchterung, die ihm nachhaltig in Erinnerung geblieben ist. Das Militär hat allzu schnellen Erfolg gehabt und eine Struktur geschaffen, unter der die Türkei heute noch leidet. In punkto Poesie haben sich in den vergangenen Jahren jedoch die Schleusen geöffnet, und daran sind Altan und seine Freunde nicht unbeteiligt.
Die Österreich-Bibliothek des Istanbuler Verlags
Um die Ignoranz zu überwinden, die den Übersetzungen aus dem Österreichischen anfänglich entgegenschlägt, gründen sie eine kleine Literaturzeitschrift, die vor allem in der jüngeren türkischen Literaturszene auf Interesse stößt. Sie sind von den in den Übersetzungen auftauchenden sprachlichen Möglichkeiten so fasziniert, dass einige von ihnen beginnen, diese Verfahren in ihrem eigenen Schreiben weiterzuentwickeln. Und schließlich gelingt es Altans Gruppe, den Istanbuler Pan-Verlag zu überzeugen, eine Österreich-Bibliothek herauszubringen, in der die wichtigsten Texte der österreichischen Avantgarde erscheinen sollen. Pro Jahr erscheinen zwei Bücher in einer Auflage von 500 Stück.
Der Pan-Verlag lässt Altan bezüglich der Programmierung dieser Reihe völlig freie Hand, was in ihm nicht ausschließlich positive Gefühle erzeugt: Ich habe zu den Verlegern gesagt: Ihr sollt mich nicht so frei lassen, weil ich von der wirtschaftlichen Seite nichts verstehe. Ihre Antwort lautete: Macht nichts, wir verstehen auch nichts davon. Jenseits der Frage nach Rentabilität profitiert der Verlag nicht zuletzt vom Idealismus eines Projekts, das er aus eigenen Kräften wohl kaum vollständig ausfinanzieren und organisieren könnte. Als Musik-Verlag ist der Pan-Verlag zudem in Sachen Literatur auf der Suche nach einem eigenständigen Profil. Die bislang erschienenen Übersetzungen kommen da mehr als gelegen nicht zuletzt Erhan Altans bisheriges Opus magnum, die Übertragung des Textes nachschrift des Linzer Verlegers und Schriftstellers Heimrad Bäcker (19252003). Bäcker, ein in jungen Jahren vom Nationalsozialismus Verführter, erkannte erst nach dem Krieg das Ausmaß der Vernichtung und arbeitete sich mit dem nachschrift-Projekt nicht zuletzt an seiner persönlichen Verstrickung in die mörderische NS-Ideologie ab. Das sprachliche Material des Textes besteht ausschließlich aus Dokumenten der NS-Zeit.
In der Türkei gelten wir als Verrückte
Angesprochen auf die ungewöhnliche Entscheidung, ausgerechnet ein so kontextabhängiges Werk ausgewählt zu haben, nennt Altan gleich mehrere Gründe für seine Entscheidung: Für mich ist nachschrift eines der wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts überhaupt. In dem Text kommen alle wichtigen Verfahren der Avantgarde des letzten Jahrhunderts ins Spiel. Außerdem gibt es in der Türkei kaum eine Sensibilität gegenüber dem Holocaust. Altan formuliert darüber hinaus die Hoffnung, dass die Beschäftigung mit einem solchen Text auch für das türkische Massaker an den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts sensibilisieren könnte. Mit dieser Argumentation wagt er sich schließlich doch noch über den bescheidenen Anspruch hinaus, das Übersetzen in der Hauptsache als Anregung für junge türkische Dichterinnen und Dichter zu betreiben. Abgesehen von der engen Bindung an die türkische Poesie-Community zeichnet die Arbeit von Altans Gruppe eine hohe Verbindlichkeit gegenüber den Objekten der Begierde, den hiesigen Autoren, aus wobei Altan in der konkreten Begegnung schon mal die Angst des Übersetzers vor dem Dichter in die Quere kommt: Wenn ich einen Dichter treffe, habe ich immer große Angst, dass er mir sagen wird: Alles, was du gedacht hast, ist lächerlich. Erfahrungsgemäß reagieren die allermeisten Autoren jedoch sehr positiv auf die Kontaktaufnahme. Ich bin immer überrascht, wie sehr sie sich freuen, dass ihre Gedichte ins Türkische übersetzt werden. Jüngstes Beispiel: der Kärntner Büchner-Preisträger Josef Winkler, der Altan gestand, dass er immer ins Türkische übersetzt werden wollte ein Wunsch, der nunmehr in Erfüllung geht, da ein Kollege Altans die Novelle Natura morta überträgt.
Und auch wenn die Übersetzer-Gruppe sich in jüngster Zeit nicht mehr so regelmäßig trifft, nennt Altan die wesentlichen Gründe für das lose Weiterbestehen dieser kollektiven Struktur: Wir halten zusammen, wir sind in Österreich und können deshalb den Autor treffen, sofern er noch lebt, und vor allem: Wir haben Lust auf das, was wir machen. Ich bin mir sicher, dass wir in der Türkei als Verrückte gelten, aber das freut mich eigentlich. Verrückt genug jedenfalls, um Wörter wie schtzngrrm ins Türkische zu übersetzen. sprgrlmt heißt das übrigens.