Angst vor MännernDichter Innenteil

Das ist eine Geschichte mit langen «Geburtswehen». Die Erzählerin ist Silvia B., sie hatte unlängst einen Schlaganfall. Wenn ich sie besuche, insistiere ich immer auf ihren Erzählungen aus ihrer Kindheit und Jugend. In dieser Erzählung ist bei ihr die Rede von einem etwa gleichaltrigen Mädchen einer sehr kinderreichen und armen Familie im hinteren Bregenzer Wald.

Illu: Karl Berger

Die vielköpfige Familie wohnte in einem Stallanbau. Was den Nebeneffekt haben sollte, dass die Tiere nebenan durch die neben ihnen wohnenden Mieter eine unbezahlte Aufsicht bekamen. Der Vater war Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter. Die Familie galt als gottesfürchtig, sie nahm am religiösen Leben der Pfarre teil. Der Familienvater galt als fleißig und zuverlässig. Er hatte den Ruf, man könne ihn auch allein in den Wald oder auf die Alm schicken, er würde schon seine Arbeit gut und schnell erledigen. Sein Einkommen reichte dennoch hinten und vorne nicht aus, die große Kinderschar ausreichend mit dem Nötigsten zu versorgen. Die Pfarrhelferinnen sprangen immer wieder ein mit Kleidern und Schulsachen, wenn die Taglöhnerfamilie in Verlegenheit geriet, da wieder einmal ein Kind schulpflichtig wurde und es ihm sichtlich an Schuhen, einer Schultasche und so weiter fehlte.

Die Kinderschar wuchs mit jedem Jahr durch einen Neuankömmling an, es stellten sich überwiegend Mädchen ein. Ob die Freude darüber groß war, kann uns Silvia B. nicht mehr sagen, aber dass es christlich war, dass man die Kinder bekam, die nun einmal unterwegs waren, da sei sie sich sicher. Silvia B. sagt mir, dass sie immer ein interessiertes Auge für die Kinder hatte, mit denen sie sich der sozialen Lage nach verwandt fühlte. Seit ihre Mutter gestorben war und ihre Tanten und Onkel sie verlassen hatten, war sie als weibliche Vollwaise ganz unten auf der sozialen Leiter angekommen.

Eine soziale Tat

In der Familie, von der sie jetzt sprechen möchte, herrschte immer Hunger. Es verwundert sie nicht, dass die Pfarrhelferinnen und auch der Pfarrer davon erfuhren. Die Mädchen wuchsen heran. Eines Tages hörte Silvia B. davon, dass der Herr Pfarrer eines der älteren Mädchen – es war im Volksschulalter – bei sich in den Pfarrhof aufnahm. Die soziale Tat, so hieß es, sollte die Familie um eine Esserin entlasten, das Mädchen könnte sich auf dem Pfarrhof nützlich machen, dafür bekäme sie Kost und Quartier, die Pfarrhelferin und der Herr Pfarrer würden sich um die Erziehung kümmern. Das Mädchen könne doch von Glück reden, dass sie im Pfarrhof Aufnahme fand, nun werde sie endlich genug zu essen bekommen, und im Fortgang der Schule würde sie eine hilfreiche Begleitung erhalten, sei es in Gestalt der Pfarrhelferin, sei es gar in der Person des Herrn Pfarrer selbst. Die frommen Eltern willigten ein, im Umfeld des Herrn Pfarrer wäre ihr Kind doch sicher gut aufgehoben. Ihrem Mädchen, meinten sie, wäre geholfen, da es nun in der Schule besser abschneiden würde, was ihm später nützlich sein könnte, und ihnen selbst wäre geholfen, da sie ein Kindermaul weniger zu stopfen hätten.

Die Jahre gingen ins Land. Aus dem Mädchen wurde eine Frau. Sie hatte die Schule abgeschlossen. Den Eltern kam es komisch vor, dass ihr Mädchen von der Pfarre weg wollte. Wohin? Wieder nach Hause? In den Stallanbau? Ohne eigenes Zimmer! Mit Schweinegeschrei am frühen Morgen, mit Hahnengeschrei und Hühnerscheiße vor Tür und Fenster!? Da stimmte doch etwas nicht! Sie bearbeiteten das Mädchen. Es kam heraus, dass der Herr Pfarrer sie seit geraumer Zeit zu sexuellen Handlungen zwang. Sie wollte auf keinen Fall mehr zurück zum Pfarrer. Das ausgeschulte Mädchen kam umgehend nach Hause.

Silvia B., so sagte sie mir, traute sich nicht, direkt die Altersgenossinnen, die ihr die Nachricht zugetragen hatten, zu fragen, was sie denn über – nennen wir sie Christine – und ihre Leiden auf dem Pfarrhof wüssten. Sie fürchtete, sie würde als Schnüfflerin angesehen werden und als solche im Dorftratsch gehandelt werden. Sie wusste, dass sich davon große Nachteile ableiten würden. Man würde ihren Kontakt meiden, ihr noch weniger erzählen als bisher, und sie würde vielleicht nie einen Arbeitsplatz bekommen, wenn sie einmal ausgeschult sein würde. Sie wagte auch nicht, das sehr verschlossen wirkende Mädchen auf die Sache anzusprechen, da sie befürchtete, dem Mädchen zu nahe zu treten und es in Verlegenheit zu bringen. Obwohl sie sehr interessiert am Schicksal des Mädchens gewesen wäre. Wie gerne hätte sie sie unterstützt, wenn sie nur gewusst hätte, wie das ginge, ohne sich und dem Mädchen zu schaden.

Der Pfarrer blieb im Dorf. Er blieb, was er immer war. Die frommen Leute gingen zu ihm in seine Messe, hörten seine Predigten am Sonntag an. Und an den Schultagen hielt der Herr Pfarrer wie immer den Religionsunterricht, er segnete die Kranken und die Toten, er taufte und traute …

Es gab zwei Ebenen. Auf der offiziellen Ebene war scheinbar nichts geschehen, auf der inoffiziellen kursierte ein Gerücht, mehr noch entfaltete sich eine Debatte unter den Dorfbewohnern, die die Gemüter erhitzte. Wenn sie, sagt mir Silvia B., die von sich meinte, dass sie eher am Schlusslicht der inoffiziellen Dorfpost angesiedelt war, so viel mitbekommen habe, dann dürfe sie annehmen, dass die Wogen unter den Pfarrmitgliedern heftig schlugen. Es habe sie mit großer Angst erfüllt, was sie zu hören bekam. Überwiegend von gleichaltrigen Mädchen.

Zwei Meinungen im Dorf

Die Elterngeneration, so war ihr Eindruck, würde im Wesentlichen in zwei Lager auseinanderfallen. Die einen sagten, die Tagelöhnerfamilie habe eine Mitschuld, wie könne man nur so viele Kinder in die Welt setzen und sie dann anderen zur Aufzucht überlassen. Zumal dann, wenn es sich um Mädchen handelt, dürfe man nicht so leichtgläubig sein, Mädchen bräuchten einen besonderen Schutz. Man dürfe nie einem Mann vertrauen, wenn es sich um den Umgang mit Mädchen handelt, auch dann nicht, wenn der Mann ein Geistlicher sei. Männer hätten sich nie im Griff, und schon gar nicht, wenn sie ihren Sexualtrieb unterdrücken sollen. Sie hörte auch von Stimmen, die meinten, die Sache habe zwei Seiten, das Kind erfuhr Unterstützung in der Schule und habe gute Sitten gelernt, die ihm im Leben sehr nützlich sein könnten. Was hätte sie zu Hause schon lernen können, als alles wie die Eltern zu machen. Das Kind habe Gott sei Dank vom Pfarrer kein Kind bekommen, was sich für seine Zukunft verderblich hätte auswirken müssen. Am besten, das Mädchen vergesse, was es erlitten hat, und behalte sich das Gute, damit noch einmal alles gut werde in ihrem Leben.

Recht fromme Frauen unter den Dorfbewohnerinnen wollten das Mädchen und den Pfarrer in ihr Gebet einschließen, denn, so meinten sie, da könne nur mehr Gott helfen. Andere meinten, der Herr Pfarrer sei nun untragbar geworden, wenn es denn stimmte, was man unter vorgehaltener Hand zu Ohren bekam. Der Fall müsse untersucht werden, der Pfarrer abgezogen werden, wenn an den Verdächtigungen etwas dran sei. Man könne doch nicht zum Alltag übergehen, so als wisse man nichts. Denn schließlich hätten ja auch andere Familien Töchter, mit denen der Herr Pfarrer immer wieder zu tun hat. Solange man nicht ausschließen könne, dass der Pfarrer sich an den jungen Mädchen vergreift, solange könne man dem Mann ja nicht mehr guten Gewissens seine Kinder anvertrauen.

Die Rede ging von einem Ohr zum anderen. Jeder hoffte, dass ein anderer die Initiative ergreift und den Kopf dafür hinhält. Eigentlich wäre der Vater dran, meinte der Volksmund. Aber der schien in sich zusammengebrochen zu sein. Die beiden Lager mieden einander, Misstrauen kehrte ein, man könnte denunziert werden, schlecht über den Pfarrer zu reden, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Die einen fürchteten, als Beschützer eines Sexualtäters angesehen zu werden, die anderen wollten nicht als Rufschädiger dastehen und vielleicht dafür noch belangt werden. Passiert ist letztlich nichts. Man blieb beunruhigt. Die möglicherweise missbrauchte Alters- und Sozialgenossin verschwand, so erzählte Silvia B. mir, aus ihren Augen, ihr hingen lange die Fragen nach, die ihr auf den Lippen lagen. Sie fühlte sich sehr exponiert, da sie weder einen sie schützenden Vater noch eine Mutter hatte. Sie hatte ganz stark das Bedürfnis gespürt, mit dem Mädchen zu reden, um für sich etwas aus der Erfahrung der Altersgenossin lernen zu können und um, falls dem Mädchen Schlimmes widerfahren ist, ihm beistehen zu können. Es blieb eine beunruhigende Angelegenheit für sie, sagte mir Silvia B. Es grub sich Angst in ihr Bewusstsein ein, Angst vor Männern, sagt sie, die Macht über einen haben, …. am Arbeitsplatz, in der Ehe …. Sie war ihr Leben lang auf der Hut.