Mitte September eröffnet die Ausstellung «Nach der Flucht» in der Hauptbücherei. Die Kuratorinnen Vida Bakondy und Amila Širbegović haben dafür Gegenstände und Geschichten von Menschen gesammelt, die während der Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren nach Wien geflüchtet sind.
Text: Eva Schörkhuber
Fotos: Carolina Frank
«Es gibt zwei Sorten Flüchtlinge. Solche mit und solche ohne Fotos.» Dubravka Ugrešić dokumentiert in ihrem Buch Das Museum der bedingungslosen Kapitulation diese Aussage eines Mannes, der während der Jugoslawienkriege aus Bosnien geflüchtet ist. Krieg vertreibt, zerstört und ermordet Menschen, außerdem löscht er Erinnerungen aus – eine Art doppelte Vernichtung, die nicht nur Symbole ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten betrifft, sondern auch Monumente und Dokumente der vielfältigen, über Jahrzehnte hinweg praktizierten Möglichkeiten eines Miteinanders wie die Brücke in Mostar oder die Vijećnica, die Nationalbibliothek in Sarajevo.
Ein Brief und ein Foto.
Vida Bakondy und Amila Širbegović haben für ihre Ausstellung Objekte und Geschichten von Menschen gesammelt, die während der Jugoslawienkriege in den 1990er-Jahren nach Wien geflüchtet sind. Unter diesen Objekten befindet sich ein Brief, adressiert an eine Frau, die aus Mittelbosnien flüchten musste und nach einer Zwischenstation in einem kroatischen Flüchtlingslager in Wien Zuflucht fand. Verfasst wurde der Brief von jener Frau, die ihrerseits in der damals von den serbischen Truppen eingenommenen Stadt in die Wohnung der Adressatin gezogen war. Die beiden Frauen, die vor den Kriegen 40 Kilometer voneinander entfernt gewohnt hatten, haben einander nie getroffen. Die ethnischen Demarkationslinien, die scharf gezogen wurden, konnten sie dennoch überwinden. In dem Brief steht: «Azra! Ich kam aus Novi Travnik mit den Kindern und einer Schultertasche, nur um die Kinder zu retten. In deine Wohnung bin ich als Dritte eingezogen. Aus der Wohnung war alles weggetragen, was mit Händen zu tragen war, außer sperrigen Sachen. Ich habe [in Novi Travnik] auch meine möblierte Wohnung und mein ganzes Leben […] gelassen, ich war dort 19 Jahre. Ich kam hierher, weil ich musste. Ich schicke dir die Dokumentation, die ich vorgefunden habe, und alle Fotos. Ich wäre glücklich, wenn mir jemand wenigstens meine Fotos schicken würde, deshalb habe ich deine behalten, nun schicke ich dir alles. Bleibt wohl und gesund, so viel von mir. Spomenka». Diese Reaktion sei, so Širbegović, «das Natürlichste zwischen Menschen», nur hätten die Kriege eine Situation geschaffen, in der das zu «etwas ganz Besonderem» geworden sei.
Ganz besonders war es auch, über weite Umwege per Post ein Foto zu erhalten, das bei einer Neujahrsfeier kurz vor Ausbruch der Kriege aufgenommen worden war. «Das ist ein ganz verschwommenes Foto», sagt Širbegović, «man kann die Personen gar nicht richtig erkennen. Dieses Foto hätte man gar nicht aufbewahrt, wenn es nicht diesen Bruch, den Ausbruch der Kriege, gegeben hätte. Ich hab es erst 1993 von einer Freundin zugeschickt bekommen. Es gibt auch Briefe darüber, wie dieses Foto von Kroatien in Australien und schließlich in Wien, bei mir, gelandet ist.»
Vor der Flucht, nach der Flucht.
Während der Jugoslawienkriege konnten viele Menschen ihre Fotoalben nicht auf die Flucht mitnehmen, weil sie schnell aufbrechen mussten oder weil es ihnen untersagt wurde. Heute sind es die Smartphones, auf denen Bilder gespeichert sind, die den Geflüchteten streitig gemacht und zum Gegenstand rechtspopulistischer Polemik werden. Für die Ausstellung sei es ihnen wichtig gewesen, eine Verbindung zwischen der Flucht und dem Leben danach herzustellen, so Vida Bakondy. Die Objekte, die sie gesammelt haben, bilden dabei eine Art Scharnier. «Manche der Objekte sind auf die Flucht mitgenommen worden, manche sind hier erworben worden. Es gibt zum Beispiel diesen Koffer, er war eines der ersten Dinge, die ein Zeitzeuge gekauft hat, als er nach Wien gekommen ist. 1991 hat er Belgrad verlassen, weil er nicht an dem Krieg teilnehmen wollte. Er hat sein Studium fortgesetzt und ist, da seine Lebensgefährtin noch in Serbien war, regelmäßig dorthin gereist. Im Gespräch über das Weggehen und Ankommen hat er auf diesen Koffer verwiesen. Mittlerweile ist der Koffer kein funktionales Gepäckstück mehr, sondern ein Hüter der Erinnerungen, nicht nur an das Hierherkommen oder an die Demonstrationen gegen Milošević, sondern auch an die eigene Familiengeschichte.»
So unterschiedlich die Objekte und die Geschichten sind, sie haben alle mit Ankommen und Unsichtbarwerden zu tun. «In einer ORF-Doku aus den 90er-Jahren [Leben im Wartesaal, ORF, 14. April 1994] sind wir auf ein Zitat gestoßen», erzählt Širbegović, «das besagt, dass man als geflüchteter Mensch in einem neuen Land nicht bei null, sondern mit einem Minus anfange. Da sind diese Verbindungen zu einem früheren Leben enorm wichtig, diese Nachweise, die zum Beispiel bezeugen, dass man eine Ausbildung hat.» «Man braucht die Erinnerung, damit man sich nicht so ausgelöscht fühlt», fügt Bakondy hinzu.
Resilienz hoch zehn.
Eine weitere Ebene der Ausstellung, die ein Projekt der Initiative Minderheiten ist und von der Stadt Wien gefördert wird, sind Interviews, die zu hören sein werden. Fünf Zeitzeug_innen erzählen von ihrer Flucht, von ihrem Ankommen, von der Bedeutung ihrer Erinnerungen auch als Ressource. Als «Resilienz hoch zehn» habe eine der Gesprächspartner_innen jene Stärke benannt, die sie aus ihren Erfahrungen, selbst einmal geflüchtet und in Wien fremd gewesen zu sein, ziehen und an Menschen weitergeben könne, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, erzählt Bakondy. Und Širbegović: «Es geht um das Sichtbarmachen von Geschichten. Im Grunde gilt der Satz ‹Ich bin kein typischer Flüchtling›, den ein Zeitzeuge im Gespräch formuliert hat, für alle. Es handelt sich um persönliche, um einzigartige Geschichten.»
Entlang der konkreten Fluchtbiografien zeigt sich unter anderem, wie bedrohlich gewisse gesetzliche Regelungen sind. Die sogenannte Drittstaatenregelung, der zufolge Menschen, die über einen als sicher geltenden Staat einreisen, kein Anrecht auf Asyl wegen politischer Verfolgung haben, trat Anfang der 1990er in Kraft und betraf somit bereits die Schutzsuchenden aus den jugoslawischen Gebieten. Viele von ihnen waren in den Nachbarländern, in denen kein Krieg (mehr) herrschte, nicht sicher davor, zum Militärdienst einberufen oder weiter vertrieben zu werden.
Der Bezug zur Gegenwart ist den Kuratorinnen aus mehreren Gründen wichtig: Gerade jüngeren Besucher_innen sollen die Zusammenhänge zwischen den Fluchtbewegungen von damals und heute vor Augen geführt werden – etwa dass 2015 die ehemals Schutzsuchenden aus Bosnien oftmals zu «Vorzeigeflüchtlingen» stilisiert wurden, um an ihnen pauschal ein Exempel der «Integrationswilligkeit» zu statuieren, das gegen die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak Flüchtenden gewendet wurde. Das Besondere in den 1990ern war, dass um die 100.000 Menschen aus Bosnien, Kroatien und dem Kosovo in Österreich aufgenommen wurden. Sie wurden unabhängig von regulären Asylverfahren, die zu lange gedauert hätten, mit einem befristeten Aufenthaltsstatus versehen, der ihnen zumindest vorübergehend Rechtssicherheit gewährte. Zwei Drittel davon sind geblieben, sie sind Bürger_innen dieses Landes, Nachbar_innen, Arbeitskolleg_innen, Freund_innen.
Notwendig wäre es jetzt, sich eine Vorgehensweise zum Vorbild zu nehmen, die es erlaubt, Menschen, die sich auf vielen Ebenen in Ausnahmesituationen befinden, schnell zu helfen, sie aufzunehmen, ihnen eine medizinische, ökonomische und soziale Versorgung zu garantieren, ihnen ein Leben nach der Flucht zu ermöglichen. Amila Širbegović fasst noch einmal zusammen, was die Ausstellung leisten soll: «Die Unsichtbarkeit von Menschen und ihren Geschichten erlaubt es anderen, diese Geschichten so zu erzählen, wie es ihnen passt.» Außerdem ist sie ein Plädoyer dafür, sich nicht von sogenannten nationalen Schulterschlüssen blenden zu lassen, bei denen jene Menschen ausgeblendet werden, die sich aufgemacht haben, um Schutz vor Krieg, Verfolgung und Hunger zu suchen.
Nach der Flucht. Aus Ex-Jugoslawien nach Wien
Geschichten von Geflüchteten in den 1990er Jahren
Eröffnung: 14. September, 19 Uhr
Bis 14. November, Hauptbücherei, 7., Urban-Loritz-Platz