Eing'Schenkt (6. Dezember 2023)
Eine Bedrohung, die leicht in der Luft, aber schwer auf Körper und Geist liegt. Soziale Scham ist nicht bloß ein harmloses persönliches Gefühl. Beschämung ist eine soziale Waffe der jeweils Mächtigeren. Ich werde zum Objekt des Blickes anderer gemacht. Andere bestimmen, wie ich – und wie ich mich – zu sehen habe. Ich werde meiner eigenen Perspektive auf die Welt beraubt. Das ist ein massiver Eingriff in die Integrität einer Person. Betroffene fürchten in diesen Augenblicken ihr Gesicht zu verlieren und wissen ihr Ansehen bedroht. Man möchte im Erdboden versinken. Unsichtbar werden.
Scham ist die große Begleiterin von Armut und mit der Frage des Blickes direkt verbunden. Adam Smith hat das bereits 1776 in seinem Klassiker Der Reichtum der Nationen festgehalten: Arm ist, «being unable to appear in public without shame». Es geht um die Freiheit, über die eigene Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verfügen zu können. Beschämung ist eine Frage des Blickes und des Ansehens. Wenn wir von «Personen» sprechen, reden wir altgriechisch vom «Angesicht». Für den Philosophen Philip Pettit heißt deswegen auch «gerechte Freiheit», anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Er schlägt hier den «Blickwechsel-
Test» vor: sich ohne Grund zur Angst oder Ergebenheit in die Augen schauen zu können.
Scham kann bei sozial Benachteiligten aber auch eine – brüchige – Form des Selbstschutzes sein. Menschen am finanziellen Rand versuchen, solange es ihnen möglich ist, die Normalität nach außen aufrecht zu erhalten. Die Kinder sollen mit den anderen mitkönnen, die Nachbar:innen brauchen sich nicht den Mund zu zerreißen. Es ist eine Form der Selbstachtung, ein Selbstschutz, das Gesicht vor den anderen nicht zu verlieren. Erst wenn die Scham weg ist, bricht der Mensch. Bei Wohnungslosen, die resigniert haben, macht sich oft frische Lebenskraft bemerkbar, wenn sie sich wieder pflegen, duschen, auf ihr Äußeres schauen können. Scham ist im guten Sinne die Wächterin der Privatheit und der Intimität. Jeder Mensch möchte vom anderen gefunden und (an)erkannt werden, jede:r hat aber auch das Recht, in seiner Selbstverborgenheit verbleiben zu dürfen. Es ist eine ineinandergreifende Dynamik, «bei der es eine Freude ist, verborgen zu sein, aber eine Katastrophe, nicht gefunden zu werden», formulierte Psychoanalytiker Donald Winnicott.
Abwertung kränkt die Seele und den Körper. Demütigung geht unter die Haut: Die stärksten Wirkungen äußern sich in erhöhtem Stress und höheren Raten psychischer Erkrankungen. Die stärksten Zusammenhänge finden sich mit Bluthochdruck und Herzerkrankungen. Beschämung schneidet ins Herz. Je öfter, je länger und je stärker die Verachtung, desto schädlicher für die Gesundheit. Die Bedrohung des eigenen Ansehens ist eine starke negative Stressquelle. Dauert der schlechte Stress an, entgleist der Cortisol- und der Adrenalinspiegel. Das schwächt das Immunsystem, erhöht die Anfälligkeit für Herz-Kreislauferkrankungen und Depressionen. Gefühle wie Ohnmacht, Scham oder Hilflosigkeit haben unmittelbare körperliche Folgen.
Im Kern ist die Funktion von Beschämung aber Menschen klein zu halten. Sie rechtfertigt die Bloßstellung und Demütigung als von den Beschämten selbst verschuldet. Sie ist nicht nur eine soziale Waffe gegen die Armen, sondern auch eine Waffe gegen die Solidarität. Beschämung ist die gute Freundin der Mächtigen und die giftige Feindin des Miteinanders.