Anstalt für Dichtungen aller Richtungen vom 11. September 2017Schreibwerkstatt

Größte Literatur huldigt dem Kleinsten

Die Anstalt für Dichtungen aller Richtungen – so nennt sich die Schreibwerkstatt, die dem AUGUSTIN angegliedert ist und für alle Literaturinteressierte (ob passive Leser_innen, ob aktive Schreiber_innen) offen steht, beendet die Sommerpause und stellt ihre Besucher_innen erstmals ernsthaft auf die Probe: Wie detailliert kann ihre Dichtung sein – aber ist die Dichte überhaupt ein Qualitätskriterium für literarisches Schreiben?

Illu: Carla Müller

Unter Detailliertheit verstehen wir z. B. das Resultat der poetischen Leidenschaft, die Aufmerksamkeit auf das «unbedeutende» Kleine zu lenken. Dadurch kann eine Erzählung, die man schlicht in drei Sätzen bewältigen könnte, oft seitenlang ausgebreitet werden. Der Detailrausch der Autorin, des Autors, kann auf die Lesenden zurückwirken: die Aufmerksamkeit auf das Unauffälligste, das Unscheinbarste, das Mickrigste kann, beeinflusst durch die Lektüre, im Alltagsleben verstärkt werden. Andere Bücherratten wiederum überblättern die dichten und detailreichen Passagen der Bücher, die sie lesen, weil diese sie von der spannenden Handlung ablenken könnten.

Viele Größen der Weltliteratur sind Meisterinnen und Meister des Details. Einige werden zu Beginn der Schreibwerkstatt präsentiert. Da ist der französische Autor André Gide (gestorben 1951): Er beschreibt in seinem Roman «Die Verliese des Vatikan» sechs Seiten lang, wie eine Romanfigur von Gelsen und Flöhen gefoltert wird – Grund war ein offenes Fenster. 35 Seiten braucht der große Pasolini im Romanfragment «Petrolio», um ein homoerotisches Erlebnis seines Alter Egos Carlos auf der «Wiese an der Via Casilina» zu schildern. Er braucht diesen Platz im Text, weil er die Schwänze von 20 Burschen beschreiben muss, die sich ihm darbieten, und neben den Schwänzen auch der Freunde Stil und Temperament, die jede Begegnung zu etwas Speziellem machen. Schließlich «Die Fahnen», der zehnbändige Roman des «kroatischen James Joyce» Miroslav Krleža, der dem jungen Anarchisten Kamilo eine Charakteristik der hinterhältigen Augenpaare der Crème de la Crème in den Mund legt. Dieser war als Aussteiger der Gesellschaft zum Begräbnis seiner bürgerlichen Mutter gekommen und spürte an den auf ihn gerichteten Blicken der anständigen Trauergemeinde, dass er hier höchst unwillkommen war.