Antonio Gramsci in WienDichter Innenteil

Herr Groll auf Reisen. 255. Folge

(Herr Groll und der Dozent besuchen den «Protestantischen Friedhof» im römischen Viertel Testacchio. Viele Nichtkatholiken sowie Atheistinnen und Atheisten aller Herren Länder sind auf dem abseits gelegenen Friedhof, der von drei wundervollen englischen Ladys betreut wird, begraben. Unter ihnen berühmte englische Schriftsteller wie John Keats und Percy Shelley, aber auch der unglückliche Sohn Goethes, August. Und Antonio Gramsci, der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, einige Jahre deren Vorsitzender und Verfasser eines erstaunlichen historischen und ästhetischen Werks, das große Ausstrahlung auf die gegenwärtige Linke im gesamten Süden Europas hat und im Zuge des griechischen Abwehrkampfs gegen die neoliberalen Finanzinstitutionen heute mehr nachgefragt wird denn je. Längst zählen Gramscis Schriften zu den bedeutendsten Arbeiten einer materialistischen Staats- und Geschichtswissenschaft. Sogar im verschlafenen Österreich werden seine Texte an Universitäten gelesen und diskutiert. In Italien gibt es kaum einen Ort und keine Stadt ohne eine Via Antonio Gramsci.)

Foto: Mario Lang

«Ich wusste, dass Sie die Schriften Antonio Gramscis in frühen Jahren studierten, immer wieder lassen Sie ja auch heute noch Ihre Begeisterung für den großen historischen Erzähler und Theoretiker durchblitzen», sagte der Dozent und beugte ein Knie, um die vielen bunten und mit krakeliger Schrift verzierten Kieselsteine, die auf der steinernen Einfriedung des Grabes aufgefädelt lagen, näher zu betrachten.

«Nicht anfassen!», rief Groll. «Vorlesen!»

Der Dozent tat wie geheißen; in Anbetracht der mangelnden Sprachkenntnisse seines Freundes Groll übersetzte der Absolvent des Wiener Theresianums, der mehrerer Sprachen mächtig war, ins Deutsche. «‹Einer für uns! Einer von uns!›, heißt es hier. Und: ‹Antonio, zeig uns den Weg›, ‹Gramsci lebt!›, ‹Danke für das Zeugnis› und so fort», sagte der Dozent unter Verrenkungen.

«Was steht auf diesem bläulichen Stein?», wollte Groll wissen und deutete auf einen flachen Stein im hinteren Drittel der Einfriedung. Der Dozent erhob sich und setzte zu einer seltsamen Verrenkung an, die seine Augen dem Stein näherbringen, aber auch den Kopf vor dem knorrigen Trieb eines übermannshohen Lorbeerstrauchs schützten sollte.

«Nicht anfassen!», rief Groll wieder, und als der Dozent strauchelte und längs vor Gramscis Grab in den Staub sank, rief Groll: «Sie Glücklicher!» Dabei reckte er die linke Faust in die Höhe.

«Geben Sie zu, das haben Sie absichtlich gemacht!», beschwerte sich der Dozent, der seine khakifarbene Hose und den grauen Burberry-Blazer abklopfte.

«Sie sollten mir dankbar sein», sagte Groll. «Dass Sie, der hochgeschossene Millionärsspross aus Hietzing, einem verwachsenen Revolutionär aus Sardinien von höchstens einsfünfzig zu Füßen liegen, macht sich in der Biographie nicht schlecht.»

«Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen», sagte der Dozent gelassen.

Groll hob zwei Steine auf und begutachtete sie. «Mit solchen Flundern habe ich als Kind stundenlang in stillen Wassern der Donau platteln geübt. Er betrachtete einen Stein. «‹Antonio Gramsci & Papa Francesco Superstars›», las er.

«Ob der Verblichene über diesen Partner froh wäre?» Der Dozent legte Grolls Stein sorgfältig zurück.

«Die Steine liegen noch nicht lange da, ich sehe keinen Staub. Im Übrigen spotte ich nicht. Ich bemühe mich, meinen Witz nicht auf dem Rücken anderer Menschen zu entwickeln wie jenes traurige Paar im ORF, das seine eigene Inferiorität durch die Verunglimpfung von Randgruppen zur Schau stellt.»

«Sie gehen davon aus, daß die beiden das Konzept der political correctness nicht verstanden haben?»

«Ich bin mir dessen sicher. Andernfalls müssten sie zynische Köpfe sein, das aber würde Intelligenz erfordern.»

Der Dozent zog die Hosenbeine hoch und hockte sich neben Groll auf die Fersen. «Die Verbindung von Gramsci und Wien … besteht Sie darin, dass Gramsci infolge seiner Knochentuberkolose so wie Sie behindert war?»

Groll lächelte. «Das wäre billig.»

«Möglich», sagte der Dozent. «Aber ich könnte es nachvollziehen. Für behinderte Menschen muss es doch einer existenziellen Erhöhung gleichkommen, wenn einige der ihren wie Stephen Hawking oder eben Antonio Gramsci für die Menschheit Herausragendes geleistet haben.»

Groll wiegte skeptisch den Kopf und sagte dann:

«Gramsci war von November 1923 bis Mai 1924 in Wien, die meiste Zeit verbrachte er im damaligen KPÖ-Hauptquartier in der Währinger Straße 68. Von Wien aus gründete er die L´Unità, die berühmte Tageszeitung der Kommunisten, die bis weit ins Bürgertum gelesen wurde und in der alle wichtigen Autorinnen und Autoren zu Wort kamen. Er war nicht gemeldet, man weiß heute nicht mehr, wo er wohnte. Vielleicht schlief er auch in den Räumen der Partei.»

Eine der englischen Ladies erschien mit einem Klappstuhl. Erfreut über das Interesse der beiden am Friedhof und Gramscis Grab spreizte sie den Stuhl auf und lud den Dozenten mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen.

In der nächsten Ausgabe: Gramsci im Wienerwald

[Bildtext: (man sieht das Haustor mit der Nummer 68 und die Auslage eines Ärztezentrums für Bewegung MZA): Text]: Heute ein Zentrum für körperliche, damals eines für politische Bewegung