Wir singen, also sind wir: der Chor «Im Ernst.»
«Im Ernst.» ist eine erweiterte Form von Chor. «Im Ernst» singt relevanten Blödsinn, verschmelzt Chor mit kulturellem Grenzgänger_innentum, sich selbst dabei stets nicht zu ernst nehmend. Ernst weckt dich auf, fordert dich heraus – positioniere dich, trete vor, sei Aktion und wirke. Aber Achtung, dieser Chor kann ansteckend sein! Von Heide Hammer, Kurto Wendt (Text) und Carolina Frank (Foto).Am 1. Mai lernten wir bei der Mayday Parade vor dem streitbaren mo.ë einen Chor kennen, dessen Performance «Zur Lage der Nation» unmittelbar sympathisch und vielversprechend war. Die trau’n sich was, sind politisch, haben Freude daran und adaptieren ihre Performance leicht und wild entschlossen, am liebsten für Auftritte im öffentlichen Raum. Später erzählen sie uns von freundschaftlichen und liebevollen Beziehungen zu den «Fearleaders Vienna»: Für einen gemeinsamen Auftritt mit der «Musikarbeiterkapelle» beim 5. Vienna Roller Derby würde gerne auch mal in geschlossenen Räumen gesungen. Der Auftritt vor dem mo.ë habe in der Gruppe viel bewirkt, diese Form der «Kunst als Protest» findet Resonanz, und die verschiedenen Elemente ergänzen einander. Die Arbeit mit Text ist wichtig, die Andeutungen von Kostüm (Mützen) und Schminke (Goldglitter) ebenso.
Ich empöre mich, also bin ich
55 Jahre nach dem Tod von Albert Camus gilt immer noch: «Ich empöre mich, ich protestiere, also bin ich.» Und Protestsongs haben eine lange Tradition, einige Bojen sind auch in Wien bereits gesetzt: Da wären jedenfalls auch das Stimmgewitter Augustin oder die Gegenstimmen oder der HOR «29 Novembar», der Brunnenchor, der Beschwerdechor oder der Subchor zu nennen. Manche Töne von «Im Ernst.» sind leiser, etwa «Rettet die Wale» (Gustav) oder das «Lied vom Ende des Kapitalismus» (Peter Licht), manche stellen sich bestimmt in eine Traditionslinie – «Do You Hear the People Sing» (Les Miserables) – und andere sind einfach nur großartig, «Star Wars» z. B. All diesen Facetten werden bis zum Herbst weitere Titel beigefügt und ambitioniert wird auch weiter an den Übergängen gebastelt.
Der Chor «Im Ernst.» setzt also einen Punkt hinter den einmal gefundenen Namen, die Titelpoesie wird auch hier nicht vernachlässigt, bei einem Kreativtreffen wurden «Chorkrodil» oder «Fuzzichor» verworfen und «Im Ernst.» für passend befunden. Einiges meinen die etwa 25 Sänger_innen tatsächlich ernst: Das musikalische Niveau muss stimmen. Die Liedauswahl erfolgt im Kollektiv, die Arrangements kommen von Liisa und Julia, die inhaltliche Orientierung ist eindeutig politisch, eine Message soll verbreitet werden, und die gilt durchaus für alle. Denn man möchte etwas bewegen, Position beziehen. Der erste Auftritt liegt noch nicht so lange zurück, am Weihnachtsmarkt 2015 im Alten AKH, der Chor betritt spontan die leere Bühne, und danach sind alle erstaunt und euphorisiert, denn viele haben zugehört, und der Applaus tut gut und klingt auch schön.
Über die Friedhofsmauer singen
Der öffentliche Raum bietet die bevorzugte Bühne, unverstärkt – Choir Bombing, singen in der U-Bahn, im Museumsquartier, im Dusika-Stadion vor und für Refugees. Derartige Auftritte gewinnen auch durch die große Zahl an Qualität, die Zielgröße liegt daher eher bei 30 Sänger_innen, weil einfach nicht immer alle Zeit finden. Sowohl Bässe als auch Tenöre würden besonders gerne gesehen, doch abgesehen von der Stimmlage ist einem Chor der Wunsch nach dem Kollektiven inhärent: Ein Repertoire zu erarbeiten und somit regelmäßig Zeit miteinander zu verbringen, verbindet und führt zu geteilten Ansprüchen. Der Spaß am Widerstand klingt hier ein bisschen nach Deleuze und Dada, es geht wesentlich um eine Praxis, und darin liegt der entscheidende Unterschied. In welchem Rahmen wird gesungen? Kann die Qualität zugunsten der Unmittelbarkeit in den Hintergrund treten? «Im Ernst.» ist spontan und singt am Matzleinsdorfer Platz, verzichtet auf Kondensatormikrofone und weicht vom Feuerwerkshäuschen auf der Geschichtsbaustelle (matzab.tv) auf den Parkplatz bei der Kirche gegenüber aus. Dort hinter der Backsteinmauer liegen am evangelischen Friedhof auch so bekannte Persönlichkeiten wie Otto Weininger und Max Winter. Bei dem erwähnten Auftritt war es weniger deren großer Anziehungskraft als der Macht der Polizei geschuldet, dass die Position des Chors während der Performance über alle Fahrspuren hinweg verändert wurde. Das Publikum zieht mit, denn die gelungene Kombination von Inhalten und Darstellung will hautnah erlebt werden. Die Konzentration auf das gesungene Wort soll gerade trotz des Verkehrslärms gelingen.
«Ernst singt. Ernst ist stimmgewaltiges Gewitter, ist poetischer Protest versetzt mit Humor, Gefühl und Spontaneität. Ernst ist Grauzone und Pop Pollution! Ernst lacht, raunt, knallt, ist Chor mit aggressiver Schönheit. Ernst singt um jede Ecke, ist plötzlich da, dringt in jede Körperöffnung. Ernst ist ein Experiment! – mit unsicherem Ausgang.
Ernst ist brodelnder Inkubator aktivistischer Singkunst. Wir fordern Menschlichkeit an der Tagesordnung, Humanismus als Pflicht. Das Feld der Politik darf nicht der Politik überlassen werden! Musik kann Politik nicht ersetzen, aber Perspektiven ändern, inspirieren und Denkanstöße liefern.
Ernst ist übermütig, manchmal laut, immer kritisch. Ernst ist mutig und konventions f r e i , ein großartiges musikalisches, performatives und audio-visuelles Erlebnis.
Ernst ist ein Lifestyle! Trau dich.»
Töne treffen ist super
Was sollten Sänger_innen also mitbringen, wenn sie diesen Chor mit ihrer Stimme bereichern möchten? Töne treffen ist super, Notenlesenkönnen aber sicher kein Kriterium. Wichtig sind der Spaß am Singen und ein Statement setzen zu wollen. Die Lust am Grenzenüberschreiten verbindet, um gemeinsam die gewöhnliche Vorstellung von Chor aufzubrechen. Es gibt also auch hier wie bei den übrigen erwähnten weder lange Roben noch einen Hang zu Kantaten oder Oratorien. Zugleich bewahrt die Unmittelbarkeit des Auftritts die Gruppe vor jener allzu raschen Musealisierung, die andere Protestformen nun immer schon beachten müssen. Zwar kann jeder Handy-Clip in eine Ausstellung getragen werden, aber hier erscheint es doch wesentlich naheliegender, Teil der Performance zu werden, die Gelegenheiten sind nicht immer selbst gewählt, können aber dennoch ergriffen werden.
Einige Wochen nach unserer ersten Begegnung singen wir und viele andere gemeinsam nach der Melodie eines ÖVP-Wahlkampfsongs aus 1966: «Wer die Wahl hat, hat die Qual …», diesmal für Alexander van der Bellen am Heldenplatz und in den U-Bahnen. Die vielen positiven, um nicht zu sagen begeisterten Reaktionen überraschen gerade angesichts des Wahlergebnisses, öffentliches Singen wirkt offenbar ansteckend und sympathisch. Für die ungewollte Reinszenierung des präsidialen Werbechors gibt es noch keine genauen Koordinaten. Die geneigten Sänger_innen finden zweckdienliche Hinweise auf Facebook: Im Ernst Chor. Und wer dann so richtig auf den Geschmack kommt, möge sich unter all den erwähnten Chören umtun oder doch die hiesige Chorlandschaft mit einer weiteren Neugründung bereichern.