Die Lokalbahn Wien-Baden und der Arbeitskampf im Süden Wiens
Die Lokalbahn Wien-Baden, auch Wiener Lokalbahn oder Badner Bahn genannt, durchpflügt den Süden Wiens, ist aber in Restwien nahezu unbekannt. Die Geschichte der Badner Bahn ist auch eine Geschichte des Arbeitskampfes, fand Karl Weidinger (Text und Fotos) bei einer Entdeckungsfahrt heraus.Die Farbe ist Creme-Beige oder Vanilleeisbraun, ergänzt von Kobaltblau. Es gibt W-Lan an Bord. Und angeblich: Barrierefrei auf ganzer Linie. Die Reise beginnt im Heimathafen Meidling, in der Wolfganggasse in Richtung Oper. Diese Remise wird demnächst abgesiedelt und rückgebaut. Das Areal zwischen Marx-Meidlinger Straße, Margaretengürtel und Eichenstraße wird für eine neue Nutzung frei. Der Stadtentwicklungsplan steht. Die Bürger_innen werden smart und sanft informiert, um nur ja keinen Protest zu wecken. Der Süden Wiens legt bevölkerungsmäßig um ein Drittel zu. Der Speckgürtel gedeiht. Das bedeutet einen Aufschwung – auch für die Lokalbahn Wien-Baden.
Das prognostizierte Bevölkerungswachstum im südlichen Einzugsgebiet stärkt auch die Bedeutung im schienengebundenen Nahverkehr. Dadurch, dass Wien stetig wächst, wird hier ein Zuwachs von etwa 30 Prozent bis ins Jahr 2025 erwartet.
Apropos Statistik: 60 Prozent der Wiener Linien sind bereits klimatisiert, bei der Badner Bahn betrifft dies die neueren, eckig kantigen TW 400 von Bombardier. Diese 14 Garnituren sind niederflurig und mit Aircondition, also Klimaanlage, ausgestattet.
Mein Gegenüber stellt sich mit Petrić Ivan vor. Er ist oder war Kroate, so genau weiß er das selber nicht mehr. Seit 1973 ist er in Wien, erzählt er. Gastarbeiter, wahrscheinlich, jetzt in Pension, das ist sicher. Hat Jahreskarte, besucht regelmäßig Freund und Landsmann in Siebenhirten. Beim letzten Mal am Wochenende war es spät geworden, und die letzte Reisemöglichkeit war eine Einzugsfahrt. Von dort ging es dann nicht mehr weiter, weil schon Betriebsende, und er blieb auf der Strecke. Hat sich ein Taxi nehmen müssen, spätnachts, sagt er schulterzuckend.
Die Lokalbahn Wien-Baden, auch Wiener Lokalbahn oder Badner Bahn genannt, verkehrt in regelmäßigen Intervallen (von 7,5 bis 15 Minuten in der Stoßzeit und später alle 30 Minuten) zwischen der Wiener Oper und dem Josefsplatz in Baden, werktags von 5 Uhr früh bis knapp nach Mitternacht (Einzugsfahrt bis Meidling Wolfganggasse).
Die Strecke misst 30,4 Kilometer. Die Gesamtgleislänge hat 68,05 Kilometer und die Anzahl der Weichen ist 163. Die Spannung beläuft sich auf 620 Volt und die Anzahl der Haltestellen beträgt 24 WLB-Stationen plus Mitbenutzung von 13 Stationen der Wiener Linien.
Ziegel waren das Gold der Gründerzeit
Neben Pendler_innen aus dem Raum Baden und Mödling auf ihrem Weg zur Arbeitsmigration nutzen immer mehr Personen die Badner Bahn auch für Freizeit- und Ausflugsfahrten (100 Tage Chillen am Wasser neben der SCS in Vösendorf). Aber auch eine Anbindung der Bundeshauptstadt an Traiskirchen, das als Anlaufstelle und Erstaufnahmezentrum für Schutzsuchende und Flüchtlinge im Asylverfahren dient, trägt zum Fahrgastplus bei.
Die Badner Bahn hat die Oper erreicht. Nach einer kurzen Rauchpause geht es wieder weiter. Und wieder zurück auf derselben Strecke. Die Pressestelle hat kein Gespräch mit Bediensteten erlaubt, «ohne vorherige Abklärung» – also unterbleibt das Interview mit dem Fahrer. Lautlos setzt sich die Garnitur in Bewegung. Nur die Weichen knirschen und kreischen. Nach wenigen Metern ertönt die Ansage vom Band: «Die Badner Bahn begrüßt Sie recht herzlich.»
Täglich werden etwa 35.000 Menschen befördert. 2014 verzeichnete diese urig anachronistische Linie knapp 12 Millionen Fahrgäste insgesamt. Die Badner Bahn hat historische Wurzeln und ist auch arbeitsgeschichtlich von Bedeutung. Denn Arbeit ist die Mutter aller Dinge. Und mit dem Kapitalismus kommt die Ausbeutung, pardon: Gewinnmaximierung dazu.
Die ersten Pläne für die Verbindung der Ziegelöfen im Süden Wiens mit dem zu verbauenden Stadtzentrum an der Ringstraße gab es um 1860. Die Anfangsstation lag am Margaretengürtel. Über die Philadelphiabrücke, Inzersdorf und Vösendorf ging es zur ersten Endstation nach Wiener Neudorf. Die Strecke wurde 1886 als «Dampftramway» unter Kohlenfeuer genommen und schaffte in den ersten Jahren etwa 280.000 Personen und 20 Millionen Ziegel. Damit war diese Bahnlinie eine infrastrukturelle Notwendigkeit und übernahm eine wichtige Rolle in der Logistik und der Organisation der Arbeit. Ziegel waren das Gold der Gründerzeit, als Wien die doppelte Bevölkerungszahl von heute hatte. Es wurde gebaut, gebaut, gebaut – die Linie boomte.
Perfide Ausbeutung: Was heißt Ausbeutung? Schon eher totale Abhängigkeit. Bezahlt wurde mit Blechmünzen, die nur in den Magazinen im abgesteckten Claim der Ziegeleien am Wienerberg Gültigkeit hatten. Der Wert dieses Lohnersatzes wurde künstlich hochgetrieben. Außerhalb dieser «Favelas» der Entrechteten war die Lebenserhaltung um gut ein Drittel billiger als in dieser abgeschlossenen Frühform der Intensivbewirtschaftung. Deswegen war freie Beweglichkeit auch ein Luxus. Es hat immer einen Grund, wenn Mobilität eingeschränkt wird.
Viktor Adler war ein Sozial-Pionier der ersten Stunde und benannte die Umstände beim Namen. Das Proletariat wurde größer und größer – und im Laufe der Jahrzehnte zur bestimmenden Größe. 1888 waren die ersten Streiks eine Folge dieser Ermächtigung. Die Löhne mussten angehoben werden. Die Wohnsituation verbesserte sich. Soziale Standards in Sachen Hygiene kamen auf, so dass Personal nicht ständig ausgetauscht (oder weggeschmissen) werden musste.
AC/DC
Seit 1907 wird die gesamte Strecke elektrisch betrieben. Durch diesen neuen Luxus stiegen die Fahrgastzahlen bis 1910 auf 4 Millionen, wobei auf der Überlandstrecke zunächst Wechselstrom verwendet wurde. 1945 wurde das System auf Gleichstrom umgestellt. Oder modern/international ausgedrückt: AC/DC, also Gleichstrom/Wechselstrom.
Während des Ersten Weltkriegs musste der Betrieb erheblich reduziert werden. 1934 wurden beinahe alle Ziegeltransporter der Bahnlinie verschrottet. Der Personenverkehr wurde stärker bedient, verlor jedoch gegen das aufkommende Automobil. Die Ziegelwerke überlebten bis zur Wiederaufbauphase nach 1945. Der Lehmabbau war unrentabel geworden. Neue Materialien wie Beton, Asphalt und Teer (auf Ölbasis) kamen auf. LKWs ersetzten und verdrängten die Transport-Eisenbahn. Der Turbokapitalismus in dieser Gegend ging sterben, zurück blieben Industrieleichen, die später teilweise neues Leben fanden.
1942 wurde die Gemeinde Wien zum Hauptaktionär und übertrug die Anteile den Wiener Verkehrsbetrieben, die heftig im Süden herumfuhrwerken. Seit 1976 wird in Vösendorf-SCS in der Shopping City Süd Halt gemacht, seit 1979 in der Gutheil-Schoder-Gasse.
Die klassisch runden Garnituren von Siemens, von denen 24 auf der Strecke im Einsatz sind, haben noch Fenster, die zur Kühlung geöffnet werden dürfen – oder auch nicht. Die ganz alten Garnituren hießen «Kölner», die aber eingemottet, verschrottet oder nur mehr auf Fotos oder im Museum zu bestaunen sind. Lustiges Detail: In den ganz alten holzverkleideten Wägen gab es zur Hälfte Raucher_innen und Nichtraucher_innen – selbstverständlich ohne Barrieren der Trennung, also barrierefrei.
Die Garnitur nähert sich der Stadtgrenze, hat das «Schöpfwerk» hinter sich gelassen. Nun bahntechnisch im Überlandbereich. Der Zug strebt mit singendem Räderwerk auf Neu Erlaa zu. Erneuerte Gleisanlagen erlauben Streckengeschwindigkeiten von 80 km/h. Es geht jetzt deutlich schneller. Die Fahrgäste werden vorstädtischer. Kinder machen Schulaufgaben auf den Vierersitzen mit Tischchen.
Nach 50 Minuten ist der Halt Traiskirchen Lokalbahn erreicht, nächste Station Tribuswinkel, und Baden Josefsplatz nach gut einer Stunde, gestoppten 62 Minuten.
Diese Züge spielen immer noch eine wichtige Rolle im «Arbeitskampf» und bringen die proletarischen Truppen zu ihren Einsatzorten an die Arbeitsfront – und wieder zurück.
Und auch wichtig: «Die Wiener Lokalbahnen behalten sich vor, die drei Warteräume (in Vösendorf-Siebenhirten, Wiener Neudorf und in Baden, Anmerkung) aufgrund betrieblicher Gründe jederzeit zu schließen.» – Bahnt sich hier ein neuer Abwehrkampf an?
Die Ticketkontrollen sind ausgelagert und werden von der Firma Securitas durchgeführt. Kontrollorgane sind befugt, Fahrscheine zu verlangen, Identität festzustellen und eine Mehrgebühr von 70 Euro einzuheben. Bei Bezahlung innerhalb von 14 Tagen mittels Überweisung kostet der Spaß bereits einen schlanken Hunderter. Hat man seinen Fahrausweis vergessen, fällt die Bearbeitungsgebühr von 8 Euro an, weil Service schon auch irgendwie großgeschrieben wird für die Stammkundschaft. – Und wenn es doch Stress gibt?
Endstation AFP: Die Agentur für Passagier- und Fahrgastrechte sitzt in der Linken Wienzeile 4. Deren Aufgabe ist es, Passagieren und Fahrgästen zu ihrem Recht zu verhelfen. Im Streitfall mit dem Unternehmen sorgt sie für rasche und verbindliche Lösungen und Entschädigungen. «Die hohe Erfolgsquote – von über 90 Prozent – bei Schlichtungsverfahren belegt unsere Durchsetzungsstärke und sorgt für mehr Qualität im öffentlichen Verkehr.»
Die Reportage zu dieser Entdeckungsfahrt ist bei Radio Augustin am 3.10. 2016 von 15 bis 16 Uhr auf Radio Orange 94.0 zu hören.