Argentiniens Piqueterostun & lassen

Arbeitslose machen Politik, damit Politik nicht arbeitslos macht

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Impulse für soziale Veränderungen kommen in Argentinien nicht mehr von den oft korrumpierten Gewerkschaften, sondern von Arbeitslosenbewegungen. Die Piqueteros begannen mit Straßen- und Fabriksblockaden und betreiben heute soziale Einrichtungen und Volksversammlungen. Sie sind für die zu erwartende Krise gerüstet und raten der europäischen Zivilgesellschaft, dasselbe zu tun.

In Wirklichkeit sind wir eine Bewegung der Bewegungen, erklärt Roberto Martino im Gespräch mit dem Augustin. Im Rahmen einer Europa-Reise besuchte er Anfang Oktober Wien, um auch hier mit lokalen Arbeitslosenbewegungen in Kontakt zu treten. Bei uns gibt es Anarchisten, Autonomisten, Populisten, Trotzkisten, Maoisten, Ex-Stalinisten und sogar solche, die sich von der Regierung kaufen lassen. Wir selbst bezeichnen uns als Guevaristen, so Martino, der dem Movimiento Teresa Rodríguez angehört, das seit 1996 aktiv ist und seit 1997 den Namen jener Putzfrau trägt, die im April 1997 im Rahmen von Polizeirepressionen durch einen Kopfschuss in der Provinz Neuquén getötet wurde. Der Hunger führt in die Verzweiflung, und die Verzweiflung verhindert den Kampf um die Rechte, begründet der Aktivist die Tatsache, dass seine Bewegung nicht nur politische Arbeit leistet, sondern auch soziale Einrichtungen wie Volksküchen, Gesundheitsstationen und Alphabetisierungskurse unterhält. Einmal in der Woche tagt in allen Stadtvierteln, in denen die Bewegung aktiv ist, das Offene Rathaus. Dieses Cabildo Abierto entsendet Delegierte an die Bezirksversammlungen, die ihrerseits Delegierte für eine nationale Versammlung wählen. Die Piqueteros fordern tief greifende soziale Veränderungen, die nur durch einen Ausstieg aus dem kapitalistischen System möglich sind.

Kosmetische Reformen

Die Krise im Jahr 2001 war der bisherige Höhepunkt einer brutalst neoliberalen Politik, die bereits mit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 ihren Ausgang nahm. Die Generäle schalteten mit der Ermordung von 30.000 Menschen gezielt soziale Bewegungen aus und häuften beträchtliche Schulden durch Militärausgaben an. Carlos Menem schaffte in den zehn Jahren seiner Regierung das Kunststück, die Auslandsverschuldung trotz radikaler Privatisierungen zu verdoppeln. Präsident Nestor Kirchner zahlte im Jahr 2005 rund 980 Millionen U$-Dollar an den Internationalen Währungsfond zurück. Das Problem konnte er damit nicht lösen, denn die Auslandverschuldung ist heute höher aus noch vor drei Jahren. Roberto Martino fordert, die Schulden nicht zurückzuzahlen, weil sie illegitim entstanden sind: Kein Österreicher würde die Schulden seines Nachbarn zahlen, meint er.

Er findet sehr kritische Worte für die anderorts positiv bewertete Regentschaft von Nestor Kirchner. Im Jahr 2003 gelang es Kirchner zwar, die Regierungsfähigkeit des Landes wieder herzustellen und das Land nach der Krise einem wirtschaftlichen Aufschwung zuzuführen. Dieser Aufschwung kam allerdings nur den Reichen zugute: Im Jahr 2001 verdienten die zehn reichsten Prozent des Landes 30-mal mehr als die Ärmsten des Landes, im Jahr 2006 war es das 35-fache. 2007 übernahm seine Frau Cristina Kirchner, die bekanntlich fünf Schönheitsoperationen hinter sich hat, das Ruder. Es sei dieselbe Politik, die durch ihre Person nur besser verdaulich gemacht werden solle, so Martino. Auch die Annäherung an Organisationen der Zivilgesellschaft in der Ära Kirchner sieht der Piquetero skeptisch. Sie habe dazu geführt, dass etwa die Central de Trabajadores Argentinos (CTA), eine der größten Gewerkschaften des Landes, nun die Interessen der Regierung und nicht mehr die Interessen der ArbeitnehmerInnen vertrete.

Tipps vor der Krise

Auch in Argentinien bekräftigte die Casa Rosada, dass die internationale Bankenkrise das Land nicht betreffen würde, bis der Index der Börse von Buenos Aires an einem Tag um zehn Prozent absackte. Zusätzlich kämpft Argentinien schon länger mit einer Inflation von 30 Prozent, einem Mangel an Krediten und einer Arbeitslosigkeit, die offiziell bei neun, unter Miteinbeziehung von Arbeitslosen in Beschäftigungsprogrammen aber bei 15 Prozent liegt. Lateinamerika werde laut Einschätzungen von Roberto Martino nicht die Peripherie, sondern eines der Zentren der Krise sein. Aus dieser Situation heraus vertraut er auf seine Bewegung als Beispiel für eine politische Struktur, die im Gegensatz zur etablierten Politik fähig ist, Veränderungen zu erreichen.

In Österreich rät er den sozialen Bewegungen, sich stärker zu vernetzen und im Volk zu verankern, um die Gefahr der extremen Rechten abzuwenden, wie sie im Fall einer Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit droht. Roberto Martino versucht auf alle Fälle Zuversicht auszustrahlen, auch im Hinblick auf das zweite lateinamerikanische Treffen der Guevaristas Ende November, wo sich alle Bewegungen treffen, welche die sozialen Utopien Che Guevaras teilen. Denn auf die Frage, was er von der Neuen Linken in Lateinamerika halte, erklärt er unmissverständlich, dass es diese gebe. Sie bestehe aber nicht aus Evo Morales und Hugo Chávez, sondern aus jenen Menschen, die in sozialen Bewegungen für eine gerechtere Welt kämpfen.

Info:

Buch und Dokumentationsfilm:

Movimiento Teresa Rodríguez: Aus der Fabrik auf die Straße

Basisdruck-Verlag. Berlin 2008.

www.basisdruck.de/piqueteros